Nolegida im Leipziger Hauptbahnhof: Schwierigkeiten mit der Versammlungsfreiheit

Anmerkungen zum Beschluss des Amtsgerichts Leipzig vom 1. Juli 2016

1. Der Leipziger Hauptbahnhof als versammlungsfreie Zone?

Sächsische Behörden sind schnell bei der Hand, Proteste unter dem Vorwand der öffentlichen Sicherheit zu unterdrücken. Dass dabei private kommerzielle Interessen auch von Gerichten höher als die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 des Grundgesetzes gewichtet werden, zeigt ein Leipziger Fall. Ein Legida-Gegner hatte für den 4. Juli 2016 von 18:15 Uhr bis 19:00 Uhr in der Halle des Hauptbahnhofs vor dem “McDonalds” eine Kundgebung angemeldet. Sein Motto „Nationalismus raus aus dem Bahnhof und den Köpfen – Gegen die Beschlagnahme des öffentlichen Raumes durch Menschenfeinde“ wendete sich gegen Demonstrationen von Legida-Anhängern an diesem Ort. Das Amtsgericht Leipzig untersagte am 1. Juli diese Versammlung auf Antrag des Betreibers der “Hauptbahnhof Promenaden”.1 Amtsrichter Quackernack setzte im einstweiligen Rechtsschutzverfahren einen Streitwert von 100.000 € fest und drohte dem Anmelder bei Zuwiderhandlung ein Ordnungsgeld bis zu 250.000 € an, ersatzweise drei Monate Ordnungshaft. Der Anmelder hat nun Prozesskosten von knapp 6000 € zu bezahlen. Dies dürfte wirklich jeden abschrecken, noch einmal im Leipziger Einkaufsparadies mit Gleisanschluss demonstrieren zu wollen. Doch wie passt dieser Beschluss zur “konstitutiven Bedeutung” der Versammlungsfreiheit für die demokratische Willensbildung, die das Bundesverfassungsgericht stets betont? Wer sich vom Amtsgericht Leipzig Aufklärung erhofft, wird enttäuscht. Denn Amtsrichter Quackernack verzichtet gleich ganz auf eine Begründung. Stattdessen verweist er “zur Vermeidung von Wiederholungen auf die insoweit zutreffenden Ausführungen” des Betreibers der “Hauptbahnhof Promenaden”. Die ECE wiederum stützt sich auf eine Verbotsverfügung der Stadt Leipzig vom 30. Juni. Die rechtliche und politische Verantwortung für das Verbot liegt also bei der Ordnungsverwaltung der Stadt Leipzig, genauer: bei Amtsleiter Schmidt und dem Ordnungsbürgermeister Rosenthal, der bekanntlich der “Linken” angehört. Wie sehr sich die Stadtverwaltung zum Handlanger kommerzieller Interessen degradiert, zeigt ihre Mitteilung der Verbotsverfügung samt Klarnamen des Anmelders an die ECE, was dieser erst den Antrag bei Gericht ernöglichte.

2. Fraport, Bierdosen und die Orte kommunikativen Verkehrs

Das Bundesverfassungsgericht betont das Recht des Anmelders, Thema, Ort und Zeit seiner Kundgebung frei zu wählen. 2011 erlaubt es auch Versammlungen in der Einkaufszone des Frankfurter Flughafens. Denn solche “Orte allgemeinen kommunikativen Verkehrs” sind allgemein zugänglich und ihr Zugang wird “nicht individuell kontrolliert”. Es dürfe demonstriert werden, wenn eine “Verbindung von Ladengeschäften, Dienstleistungsanbietern, Restaurationsbetrieben und Erholungsflächen einen Raum des Flanierens und Orte des Verweilens und der Begegnung” schaffe. 2015 stellen die Karlsruher Richterinnen und Richter die Versamlungsfreiheit für privatisierte Fußgängerzonen fest und heben das Verbot eines “Bierdosen-Flashmobs für die Freiheit” in der Passauer Innenstadt auf. Die Versammlungsteilnehmer wollten dort auf das Kommando „Für die Freiheit – trinkt AUS!“ gegen private Sicherheitsdienste protestieren und demonstrativ eine Dose Bier leeren.2 Dagegen darf in Räumen nicht demonstriert werden, die der Allgemeinheit “ihren äußeren Umständen nach nur zu ganz bestimmten Zwecken zur Verfügung stehen und entsprechend ausgestaltet sind”, etwa hinter der Sicherheitsschleuse eines Flughafens.3 Der Leipziger Versammlungsbehörde missfällt diese Rechtsprechung, sie meint allen Ernstes, der Hauptbahnhof sei kein “allgemein zugänglicher Ort”. Im Bierdosenfall sei “nach außen nicht ersichtlich” gewesen, “dass es sich um eine private Fläche handelt”; der Hauptbahnhof Leipzig dagegen sei “nach außen als Gebäude klar abgegrenzt”.4 Für das Demonstrationsrecht kommt es aber nicht darauf an, ob ein Ort als privater erkennbar ist, sondern ob er unkontrolliert öffentlich zugänglich und durch zahlreiche Einkaufs-, Kommunikations- und Verweilangebote geprägt ist. Dies ist bei der Bahnhofshalle und den “Hauptbahnhof-Promenaden” in Leipzig offensichtlich der Fall. Etwas anderes gilt dagegen für die Bahnsteige, die dem sicheren Aus- und Einstieg der Fahrgäste dienen.

3. Recht auf Protest gegen “stilles Gedenken”

Versammlungsbehörde und Amtsgericht unterschlagen jedenfalls einen entscheidenden Gesichtspunkt: Wenn Legida-Anhänger im Hauptbahnhof unbehelligt vom Centermanagement der ECE demonstrieren dürfen, dann muss auch ihren Gegnern Protest ermöglicht werden. Darauf hat sich auch der Anmelder berufen. Zwar behauptet Amtsleiter Schmidt in seiner verschraubten Diktion: “Diesbezüglich wurden Sie darüber in Kenntnis gesetzt, dass dieses Problem bestand und durch die Polizei und die Versammlungsbehörde abgestellt wurde.” Doch auch am 4. Juli 2016 haben sich wieder Legida-Anhänger im Hauptbahnhof versammelt. Proteste sind auch an nicht allgemein zugänglichen Orten zulässig, wenn der Berechtigte zu einer Versammlung einlädt, gegen die protestiert werden soll. 2012 hatte die Dresdner Oberbürgermeisterin für den 13. Februar, den Tag des Bombenangriffs von 1945, die Öffentlichkeit zum “stillen Gedenken” und zur Kranzniederlegung auf den Heidefriedhof eingeladen. Personen, die mit einem Transparent gegen “Den Deutschen Gedenkzirkus” protestierten, waren vom Amtsgericht wegen Verstoßes gegen die Friedhofssatzung und “grob ungehörigen Verhaltens” zu einem Bußgeld von 150 € verurteilt worden. Weil auch das OLG Dresden dies für rechtmäßig gehalten hatte, hob das Bundesverfassungsgericht die Bußgeldverurteilung auf – zu Recht! Zwar sei ein Friedhof keine “Stätte des allgemeinen öffentlichen Verkehrs und Ort allgemeiner Kommunikation”. Wenn aber “tatsächlich allgemeine Kommunikation eröffnet” werde, weil nach dem Willen der einladenden Stadt „ein Zeichen für die Überwindung von Krieg, Rassismus und Gewalt” gesetzt werden solle, finde eine “Auseinandersetzung mit gesellschaftlich bedeutsamen Themen” statt. Daher müssten auch “konkret auf das Anliegen des Gedenkzuges” bezogene Proteste erlaubt sein.5 Die Demonstranten haben so auch ihr politisches Ziel erreicht. Denn seitdem verzichtet die Stadt Dresden lieber auf eine offizielle Gedenkveranstaltung, als sich Protesten gegen Inhalt und Form des “stillen Gedenkens” auszusetzen. Auch wenn die ECE Legida im Hauptbahnhof nur duldet, findet eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen statt, an der sich alle pro und contra beteiligen können müssen.

4. “Ein vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt”?

Trotzdem schreibt Amtsleiter Schmidt dem Anmelder: “Ihnen wurde dargelegt” dass den “vorliegenden Stellungnahmen der zu beteiligenden Institutionen zu entnehmen ist, dass die Durchführung der Versammlung – einschließlich der notwendigen Sicherungsmaßnahmen – zur unverhältnismäßigen Beein­trächtigung Dritter, nämlich der Kunden der Deutschen Bahn AG und der ECE Projektmanagement GmbH & Co. KG führen”. Zwar ist an privaten Orten die Versammlungsfreiheit gegen das Ausschließungsrecht des Eigentümers nach Art. 14 GG abzuwägen. Das Bundesverfassungsgericht verlangt aber “praktische Konkordanz” im Einzelfall, also möglichst beide Rechte zur Geltung zu bringen. Nun ist zuzugeben, dass Karlsruhe bisher keine näheren Abwägungsmaßstäbe genannt hat, wie das Ordnungsamt vermerkt.6 Aber eine Abwägung führt keineswegs zwingend zu einem Totalverbot der Nolegida-Versammlung. Das Ordnungsamt verengt die Offenheit des Abwägungsprozesses von vornherein zu Gunsten des Privateigentümers ECE. Bezeichnenderweise geht die Stadt überhaupt nicht auf die Kompromissangebote des Anmelders ein, etwa durch Absprachen zu Ort, Zeit und Teilnehmerzahl. Stadtverwaltung und Amtsgericht haben nicht verstanden, dass eine kommerzielle Wohlfühlatmosphäre keine Einschränkung der Versammlungsfreiheit rechtfertigt. Die Verfassungsrichterinnen und -richter betonen unmissverständlich: Verbote können nicht “auf den Wunsch gestützt werden, eine „Wohlfühlatmosphäre“ in einer reinen Welt des Konsums zu schaffen, die von politischen Diskussionen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen frei bleibt.” Ja “ein vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt des Bürgers ist kein Belang, zu dessen Schutz der Staat Grundrechtspositionen einschränken darf”7. Demonstrierende haben das Recht “das Publikum mit politischen Auseinandersetzungen, gesellschaftlichen Konflikten oder sonstigen Themen zu konfrontieren. Und diese Konfrontationsrechte sind “als Grundlage der demokratischen Willensbildung mit der Versammlungsfreiheit gewollt und bilden ein konstituierendes Element der demokratischen Staatsordnung.”8 Man kann es auch so sagen: Wer Versammlungen aus öffentlich zugänglichen Konsummeilen verbannt, der beschädigt die Demokratie!

5. Aber jedenfalls die Sicherheit!

Die Leipziger Versammlungsbehörde weiss wohl, auf welch verfassungsrechtlich dünnes Eis sie sich wagt. Daher stützt sie ihre Verbotsverfügung auch auf Sicherheitserwägungen. So reiht sie seitenlang Textbaustein neben Textbaustein aus Polizeiberichten der letzten anderthalb Jahre über Konfrontationen zwischen Legida- und Nolegida-Anhänger. Der Bescheid gipfelt in der Einschätzung der Polizeidirektion Leipzig, nur mit einem Verbot der Nolegida-Versammlung seien “Jagdszenen” im Leipziger Hauptbahnhof zu verhindern. Nun kommt die Untersagung einer Versammlung “nur in Betracht, wenn eine unmittelbare, aus erkennbaren Umständen herleitbare Gefahr für mit der Versammlungsfreiheit gleichwertige, elementare Rechtsgüter vorliegt. Für das Vorliegen der „unmittelbaren“ Gefährdung bedarf es einer konkreten Gefahrenprognose.”9 An dieser konkreten Gefahrenprognose fehlt es. Denn der Verbotsbescheid sagt nicht, wieso die Nolegida-Anhänger die öffentliche Sicherheit gerade im Rahmen der angemeldeten Versammlung am 4. Juli 2016 gefährden würden. Jedenfalls fehlt es an einer Erörterung, warum nur ein Totalverbot die unterstellte Gefahr beseitigen könne. Offenbar folgert Amtsleiter Schmidt eine Gefahr allein aus dem angemeldeten Zweck, gegen die Legida-Rassisten zu protestieren. Ein Versammlungsverbot, das an der beabsichtigten Meinungskundgabe anknüpft, ist aber offensichtlich verfassungswidrig. Soll allein aus dem Versammlungszweck auf eine Gefahr geschlossen werden, dann müssten Nolegida-Versammlungen generell unfriedlich verlaufen. Dies ist offensichtlich nicht der Fall.

6. Grundrechtswidrigkeit abschreckend hoher Prozesskosten

Eigentlich entscheiden Verwaltungsgerichte versammlungsrechtliche Streitigkeiten. Die ECE konnte das Amtsgericht Leipzig anrufen, weil ihre privaten Eigentumsrechte betroffen waren. Amtsrichter Quackernack hat den von der ECE beantragten Rahmen voll ausgeschöpft und mit 100.000 € locker das Zwanzigfache des bei Verwaltungsgerichten üblichen Streitwerts festgesetzt. Eigentlich hätte der Anmelder bei verlorenem einstweiligen Verfahren vor dem Verwaltungsgericht bis zu 1100 € anstatt 6000 € bezahlen müssen. Es kann im Lichte des Art. 8 GG aber nicht richtig sein, dass das Prozesskostenrisiko vom zufällig angerufenen Gericht abhängt. Hohe Streitwertfestsetzungen schüchtern Bürgerinnen und Bürger ein und halten sie ab, ihre Grundrechte zu gebrauchen.10 Ein Anmelder kann den Umfang gegenläufiger privater Interessen regelmäßig nicht erkennen. Daher ist es unverhältnismäßig, ihm das volle Risiko des Vorrrangs solcher Interessen im Einzelfall mit einer Streitwertfestsetzung aufzubürden. Zudem darf “dem Veranstalter oder Leiter einer Versammlung gebührenrechtlich nicht Gefahrentatbestände zugerechnet werden” dürfen, “die nicht von ihm, sondern – wenn auch im Zusammenhang oder infolge der konkreten Versammlung – eigenständig durch Dritte unter Einschluss von Versammlungsteilnehmern geschaffen werden:”11 Hier hält die Stadt Leipzig die öffentliche Sicherheit aufgrund des Versammlungszwecks “Nolegida” für gefährdet, ohne allerdings dem Anmelder persönlich die Herbeiführung einer besonderen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit vorzuhalten. Sie können dem Anmelder auch nicht über den Umweg einer Streitwertfestsetzung zugerechnet werden.

Es ist zu hoffen, dass der Beschluss des Amtsgerichts Leipzig aufgehoben und der Versammlungsfreiheit für die Zukunft zum Durchbruch verholfen wird. Die Stadt Leipzig sollte akzeptieren, dass die Schaffung öffentlicher Konsumzonen in privater Hand die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger nicht suspendiert. Der Fall zeigt wieder einmal: Die Versammlungsfreiheit bleibt in Sachsen ein misstrauisch beäugtes Gut, das in seiner vollen Reichweite von den Bürgerinnen und Bürgern noch erkämpft werden muss.

1AG Leipzig, Beschluss vom 1.7.2016, Az. 03 O 1506 / 16, unveröffentlcht. Ich danke dem Anmelder für die Überlassung der Verfahrensakten.

2BVerfG, Urteil vom 22. Februar 2011, 1 BvR 699/06 – Fraport, R.69. BVerfG, Beschluss vom 18.Juli 2015, 1 BvQ 25/15 – Bierdosen-Flashmob, R.5.

3BVerfG, Fraport, R.70.

4Ordnungsamt Leipzig, Bescheid vom 30.6.2016, S.7.

5BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 2014, 1 BvR 980/13 – Heidefriedhof, R.20.

6BVerfG, Bierdosen-Flashmob, R.6f.

7BVerfG, Fraport, R.103. – Das Gericht setzt fort: ” Unerheblich sind folglich Belästigungen Dritter, die darin liegen, dass diese mit ihnen unliebsamen Themen konfrontiert werden. Erst recht ausgeschlossen sind Verbote zu dem Zweck, bestimmte Meinungsäußerungen allein deshalb zu unterbinden, weil sie von der Beklagten nicht geteilt, inhaltlich missbilligt oder wegen kritischer Aussagen gegenüber dem betreffenden Unternehmen als geschäftsschädigend beurteilt werden.”

8BVerfG, Fraport, R.70.

9BVerfG, Fraport, R.90, ständige Rechtsprechung.

10BVerfG, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2007, S.414, R.35ff. für die Festsetzung von Gebühren eines verwaltungsrechtlichen Bescheids.

11BVerfG, aaO, R.40.

 

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