Clausnitz: Erzgebirgischer “Reisegenuss” und die Sächsischen Verhältnisse

Clausnitz, 18. Februar 2016: “Besorgte Bürger” blockieren einen Bus mit Flüchtlingen, bedrohen und beleidigen sie, Gewalt liegt in der Luft. Ein Polizeibeamter zerrt einen angsterfüllten Jungen unter dem gemeinen Gejohle des Mobs in die Unterkunft, so zeigt es ein Video. Zwei Tage später, der Chemnitzer Polizeipräsident Uwe Reißmann rechtfertigt nicht nur das Vorgehen der Polizei, sondern kündigt auch Ermittlungen gegen die Flüchtlinge an. Rückendeckung erhält er von höchster Stelle, auch Bundesinnenminister Thomas de Maiziere und Sachsens Innenminister Markus Ulbig erkennen kein Fehlverhalten der Polizei. Die internationale Öffentlichkeit ist entsetzt: Will und kann Sachsen überhaupt Flüchtlinge vor dem rassistischen Pöbel schützen?

Blockade und “Verfrachtung” der Flüchtlinge in die Unterkunft

19.20, Cämmerswalder Straße: Ein Traktor, Klein-LKW und ein PKW sowie etwa 40 Personen versperren die Zufahrt zum vorgesehenen Flüchtlingshaus.1 Der Bus des Landratsamtes Mittelsachsen mit etwa 20 bis 25 Menschen an Bord muss anhalten. In den nächsten zwei Stunden werden sie in dieser Falle ausharren müssen. Zwei Beamte einer Funkstreife alarmieren das Polizeirevier Freiberg. Vergeblich fordert das Unterstützung bei der Bereitschaftspolizei Sachsen an. Die Bundespolizei kann im Laufe des Abends nur 8 Polizisten entsenden, die Berichte sprechen insgesamt einmal von 19, dann von 23 Beamten im Einsatz. Gegen 20 Uhr ist die Menge auf etwa 100 Personen angeschwollen. Die Polizei spricht Platzverweise aus und droht, die Straßenbesetzer mit “unmittelbarem Zwang” zu räumen. Das anwesende “Volk” quittiert mit “Gelächter“. Laut Ulbig war die “tatsächliche Durchsetzung der Räumung nach Einschätzung des Polizeiführers vor Ort zu diesem Zeitpunkt aufgrund der Kräftesituation nicht möglich.” Die Polizei ermittelt aber die Halter der quergestellten Fahrzeuge. Gegen 20.30 leisten diese der Aufforderung Folge, die Fahrzeuge wegzufahren. Die Polizei stellt keine weiteren Personalien fest, Festnahmen keine.

Der Bus fährt nun bis etwa drei Meter an den Eingang der Unterkunft heran. Die Menge drängt sich weiter um den Bus. Version Reißmann: “Es gibt lautstarke Protestrufe. Ein Rufer droht das Begehen einer Straftat an.Er vermerkt weiter: “Die Businsassen wollen das Fahrzeug nicht verlassen. Mit einem Dolmetscher versuchen die Einsatzkräfte die Ankommenden zum Aussteigen zu bewegen. Die Lage verschärft sich, als aus dem Bus heraus die Protestierenden gefilmt werden und von einem Jungen provozierend gestikuliert wird (u.a. Zeigen des Mittelfingers). Um die Situation zu beruhigen, wird der Junge aus dem Bus in die sichere Unterkunft gebracht. Für diese Maßnahme macht sich einfacher unmittelbarer Zwang notwendig.”

Wie fühlen sich wohl die Menschen im Bus? Sie sehen sich seit mehr als anderthalb Stunden in einem fremden Land in einem Käfig gefangen, von einem unverständlichen Pöbel bedrängt, der drauf und dran zu sein scheint, mit Gewalt anzugreifen. Und die Polizei vertreibt die Angreifer nicht! Was würde geschehen, wenn sie den Bus verließen? Auch Innenminister Ulbig hat die Perspektive der Flüchtlinge selbst Wochen später nicht im Blick. Nach seiner Version der Ereignisse wird der einfache Dolmetscher zu einem entscheidungsbevollmächtigten Vertreter des Landratsamtes: “Ein Verantwortlicher des Landkreises Mittelsachsen erscheint vor Ort und versucht die Asylsuchenden zum Beziehen der Unterkunft zu bewegen. Eine alternative Unterbringungsmöglichkeit war nach dessen Angaben nicht gegeben. In Abstimmung mit dem Vertreter des Landratsamtes Mittelsachsen wurde daher entschieden, die Unterkunft zu beziehen. Außerhalb des Busses skandierte die Menge fortgesetzt Parolen, ‘u.a.”Wir sind das Volk!”. Die strafbare “Provokation” des Flüchtlingsjungen entpuppt sich als unspezifisches “Gestikulieren”. Das Ergebnis ist jedoch dasselbe: “Bei insgesamt zwei Asylbewerbern wurde bei dem Herausführen aus dem Bus unmittelbarer Zwang (einfache körperliche Gewalt) angewendet.”

Versammlungsfreiheit, polizeilicher Notstand und Gefahrenabwehr

Wie ist das Vorgehen der Polizei rechtlich zu beurteilen? Zuächst: Die “besorgten Bürger” können sich nicht auf die Versammlungsfreiheit berufen. Zwar gaben sie sich in Sprechchören als “das Volk” aus und zeigten ein Transparent. Die Sperrung einer Zufahrtsstraße mit Fahrzeugen ist aber ein strafbarer gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315b Strafgesetzbuch), auch Bedrohungen von Flüchtlingen sind nicht von der Versammlungsfreiheit gedeckt. Die polizeilichen Platzverweise, die Halterfeststellung und die Aufforderung, die Fahrzeuge wegzufahren, waren daher geboten und rechtmäßig. Allerdings setzte die Polizei diese Anordnungen nicht durch, sondern ließ den Bus bis auf drei Meter an die Eingangstüre heranfahren. Damit erhöhte sie die Gefahren für die körperliche Unversehrtheit und die Ehre der Flüchtlinge. Man habe es für möglich gehalten, räumt Ulbig ein, dass “zumindest Teile der bis zu diesem Zeitpunkte nicht gewalttätigen Teilnehmer aus der Menschenmenge vor dem Bus versuchen würden, die Asylbewerber zu attackieren.” Dennoch geht die Polizei nicht gegen die Angreifer, sondern mit Gewalt gegen die Menschen vor, die sich in ihrer Obhut befanden.

Reißmann und Ulbig begründen das Vorgehen gegen die Flüchtlinge zunächst mit einem “polizeilichen Notstand”: Die Störung hätte “auf andere Weisenicht beseitigt werdenkönnen, weil die eigenen Mittel der Polizei nicht ausreichen” (§ 7 Abs. 1 Polizeigesetz). Doch hätte die Polizei eigentlich gewarnt sein müssen. Bereits am 10. Dezember 2015 hatte ein Bürgermob in Jahnsdorf bei Chemnitz gegen einen Flüchtlingstransport Steine, Flaschen und Pyrotechnik geworfen und einen Busfahrer verletzt.2 Bis 21.45 wären in Dresden Bereitschaftspolizisten im Dienst gewesen, die aber für andere Aufgaben eingesetzt worden sein sollen.3 Sächsische Behörden haben in den letzten Monaten oft Notstände behauptet, die sich später als zweifelhaft erwiesen haben. Erinnert sei an die Absage der Pegida-Demonstration im Januar 2015 in Dresden wegen angeblicher Bombengefahr oder das rechtswidrige Verbot eines Willkommensfestes Ende August 2015 in Heidenau. Der Polizeiminister wird sich die Frage gefallen lassen müssen, wieso er Beamte nicht dort einzusetzen kann, wo sie gebraucht werden.

Ulbig stellt daher die Argumentation um und passt den Sachverhalt an: Er rechtfertigt das gewaltsame Herauszerren als Vollzugshilfe für den Kreis Mittelsachsen (§ 61 Polizeigesetz), und zugleich als Maßnahme zum Schutz der Flüchtlinge: “Ein Verlassen des Busses mit dem Ziel der sofortigen Unterbringung der Asylbewerber in ihre Wohnungen schätzte der Polizeivollzugsdienst aus gefahrenabwehrrechtlichen Gründen für geboten ein.” Tatsächlich sind Asylantragsteller zunächst verpflichtet, in der zugewiesenen Aufnahmeeinrichtung zu wohnen (§ 47 Asylgesetz). Die Wohnpflicht dient einer schnellen Durchführung des Asylverfahrens, nicht aber dem Schutz der Flüchtlinge vor Gefahren für Leib und Leben. Handlungsmotivation und Ziel der Polizei werden also nicht von der gesetzlichen Ermächtigung gedeckt.

Zudem: die Rechtmäßigkeit einer polizeilichen Maßnahme ist für den Zeitpunkt des polizeilichen Handungsentschlusses zu beurteilen. War die sofortige gewaltsame Unterbringung geeignet, erforderlich und angemessen, um die Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit der Flüchtlinge durch den aufgeheizten Bürgermob zu beseitigen? Angesichts der geringen Polizeikräfte und der zahlenmäßigen Überlegenheit der Menge erscheint diese Prognose angreifbar. Die Polizei beendet ihren Einsatz schon um 22.30 Uhr. Dass “besorgte Bürger” das Haus in der Nacht nicht mehr angriffen, ist ein glücklicher Umstand, der die polizeiliche Entscheidung nicht im nachhinein rechtfertigt. Unterm Strich ist festzustellen: Die Polizei verfrachtete die Flüchtlinge auf schwankender Rechtsgrundlage, koste es was es wolle und mit Gewalt, in die Unterkunft, um den eigenen Einsatz schnell zu beenden.

Rassistischer Pöbel ermutigt durch Staatversagen

Die Einschüchterung und Bedrohung verängstigter Frauen und Kindern zeigt eine erschütternde emotionale Verrohung der “Asylgegner”, als die sie noch immer verharmlost werden. Nein, das selbsternannte “Volk”, französisch “peuple”, enttarnt sich nicht nur in Clausnitz als aktionsorientierter rassistischer Pöbel. Diese gemütlichen Erzgebirger empfinden die Flüchtlinge als Angreifer, sie halten sich selbst für Opfer des Staates, gegen die sie jede noch so gemeine Gewalttat zur Verteidigung der “Heimat” für gerechtfertigt halten. Mit “Heimat” meinen sie eine fremdenfreie Zone, unter “Volk” verstehen sie eine deutsch-völkische Gemeinschaft, demokratische Institutionen verwechseln sie mit Erfüllungsgehilfen ihres autoritären rassistischen Weltbilds. Genau diese Ideologie verbreiten die pegida-Führer, genau diese Clausnitzer Brutalität sehnen sie herbei, wenn sie allmontäglich zum “Widerstand” hetzen! Und der Pöbel kriegt seinen symbolischen Sieg von den Staatsorganen frei Haus geliefert: Die öffentliche Vorführung der Flüchtlinge im hoheitlichen Würgegriff bestätigt das rassistische Vorurteil des Bürgermobs vom “gefährlichen” Ausländer. Endlich geht die Staatsgewalt wie gefordert nicht gegen das “eigene Volk”, sondern die Flüchtlinge vor! So etwas nennt man Täter-Opfer-Umkehr. Nachdem noch schnell der Videofilm von der Erniedrigung und Verhöhnung (“Reisegenuss”) der Flüchtlingskinder als Trophäe ins Netz gestellt ist, kann sich der Pöbel befriedigt in seinen niedlich sanierten erzgebirgischen Heimatstuben schlafen legen. Schon am nächsten Morgen will in Clausnitz keiner mehr dabei gewesen sein. Der Bürgermeister verweist auf ortsfremde Störer, der völkische “Frieden” vor Ort ist wichtiger als die Angst der Flüchtlinge.

Institutioneller Rassismus?

Ist Clausnitz ein Fall von institutionellen Rassismus’? Damit werden eingeübte Verhaltensweisen von Institutionen in einem gesellschaftlichen Beziehungsfeld bezeichnet, die zwar im Einzelnen nicht von rassistischen Einstellungen der handelnden Personen verursacht sein mögen, im Ergebnis aber diskriminierend wirken. Im Falle Clausnitz: Hielten die Polizeibeamten in der Befehlskette vom Revoer Freiberg bis zur Zentrale in Dresden etwa den Schutz von 25 Flüchtlingen für nicht so wichtig, um die ohnehin überlastete Bereitschaftspolizei von Dresden aus in Marsch zu setzen? Setzt der Polizeiführer vor Ort seine Anordnungen auch deshalb nicht durch, weil es “nur” um den Schutz von Flüchtlingen ging? Warum stellt er nicht mehr Personalien der Blockierer fest, um eine spätere Strafverfolgung zu ermöglichen? Zeigt sich etwa ein untergründiges Einverständnis mit dem “eigenen Volk” der “Asylgegner”? Warum schenkt er dem Pöbel den symbolischen Erfolg, die Flüchtlinge vor ihren Augen im Polizeigriff abzuführen? Wieso geht es Polizeipräsident Reißmann nur darum, seine Beamten in Schutz zu nehmen? Warum erklärt er, erst der “Stinkefinger” des Flüchtlingsjungen hätte die Lage eskaliert? Wieso versteigt er sich zur Ankündigung strafrechtlicher Ermittlungen gegen ein strafunmündiges Kind? Wieso können sich die Täter in ihrem örtlichen Umfeld verstanden fühlen? Und wieso lässt die Staatsanwaltschaft mit ihren wie stets dahin dümpelnden Ermittlungen die Täter straflos ausgehen?

Die sächsische Polizei und die politisch Verantwortlichen aus der CDU stellen sich diesen Fragen seit jeher nicht. Es geht damit auch um ein Führungsproblem, dem Minister Ulbig ja so offensichtlich nicht gewachsen ist. Es ist das sichtbare öffentliche Versagen der Polizei, die theatralische Bestätigung rassistischer Vorurteile, das immerwährende Verständnis der führenden Staatspartei, der faktische Ausfall einer Strafverfolgung, kurz das offensichtliche Zurückweichen des Staates, das den rassistischen Pöbel zur Gewalt ermutigt. So zeigt der Fall Clausnitz die “Sächsischen Verhältnisse”, die das Land zum größten Tatort rassistischer Straftaten in Deutschland gemacht haben.

1Die Rekonstruktion der Ereignisse beruht einmal auf der Medieninformation Nr. 107 der Polizeidirektion Chenmnitz zur Pressekonferenz des Polizeipräsidenten Uwe Reißmann, zum anderen auf den Antworten des Innenministers Ulbig auf parlamentarische Anfragen, vgl. Sächsischer Landtag, Drucksachen 6 / 4284 – 4287, 4289, 4292, 4299, 4364, 4372.

2Kleine Anfrage 6 / 3737.

3Kleine Anfrage 6 / 4787.

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