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Gegen den Irrweg eines 365-€-Jahresfahrscheins

I. Aktuelle Debatten um einen 365-€-Jahresfahrschein

Seit gut 2 Jahren werden die öffentlichen Debatten um die notwendige Verkehrswende vom Streit über einen 365-€-Jahresfahrschein überprägt. Der Verkehrswendeaktivist Heinrich Strössenreuther initiierte 2018 bei change.org eine Petition, die von über 34.000 Personen unterzeichnet wurde. Die Bundesregierung solle den Kommunen die Einführung eines 365-€-Fahrscheins mit Abschaffung der Diesel-Subventionen finanzieren.

Als strahlendes Vorbild erscheint die Stadt Wien, die mit diesem Fahrschein den ÖPNV seit 2012 erheblich gestärkt habe. Auch in Deutschland gibt es “365-€-Tickets”, so in Hessen für Schülerinnen und Schüler und ab 1.1.2020 auch für Seniorinnen und Senioren. Bayern möchte ein Bildungsticket für diesen Preis einführen. Die Bundesregierung fördert in Bonn und Reutlingen ein Jahr lang ein 365-Euro-Ticket – allerdings nur für Neukunden. Im Rahmen des “Klimapakets” der Bundesregierung soll es 10 weitere Modellprojekte geben, für die sich schon zahlreiche Städte, darunter auch Leipzig und Dresden, beworben haben. Das Scheuer-Ministerium war aber noch nicht in der Lage, die Förderbedingungen festzulegen.

Bürgerinitiativen und Umweltverbände wie der Ökolöwe Leipzig sammeln Unterschriften für ein 365-€-Jahresticket für alle. Das Motto des Ökolöwen “Für 1 € am Tag umweltfreundlich mobil” klingt gerade für VerkehrswendeaktivistInnen einleuchtend und attraktiv.1 Unter dem Druck von 20.000 Unterschriften hat der Leipziger Stadtrat am 18. Dezember 2019 mit übergroßer Mehrheit die Aufnahme des Jahrestickets in seinen Nahverkehrsplan beschlossen.

II. Tauziehen um 365 € in Dresden

1. Kommunalwahlkampf 2019

Ausgerechnet die Autofahrerpartei CDU überraschte im Frühjahr 2019 mit der Ansage auf ihren Wahlplakaten: “Eine Jahreskarte für Alle: Bus und Bahn für 1 Euro am Tag”. Die Fraktion der Linken, die das Jahresticket gar nicht im Wahlprogramm hatte, nahm den Ball auf und stellte einen entsprechenden Antrag im Stadtrat. Seit in Wien die Jahreskarte für nur 365 € eingeführt worden sei, habe “sich die Zahl der Nutzer in Wien mehr als verdoppelt.” “Mehrere deutsche Großstädte” prüften “die Übernahme dieses Modells, um im Rahmen des Modal Split den Anteil des ÖPNV deutlich zu erhöhen”. Die Linke behielt auch die Interessen der Autofahrer*innen im Blick und fügte beschwichtigend hinzu, der Jahresfahrschein sei nicht “zwingend mit zusätzlichen Restriktionen gegenüber den MIV-Nutzern verbunden”.

Über Kosten und Finanzierung des 365-€-Fahrscheins schwieg sich die Fraktion allerdings aus. In der Ausschussdebatte schlugen ihre Vertreter Jens Mathis und Dr. Martin Schulte-Wissermann vor, den jährlichen Zuschuss der Technischen Werke Dresden an die Dresdner Verkehrsbetriebe von 40 auf 80 Mio € zu verdoppeln. Im Wahlkampf war dann auf Linken-Plakaten die Botschaft zu lesen: “Geld ist genug da!”.

Auf Antrag der Grünen und der SPD wandelte der Dresdner Stadtrat den Beschlussantrag der Linken Anfang Mai 2019 in einen Prüfauftrag um. Auch die “Auswirkungen auf die Finanzlage der DVB AG und des Verkehrsverbundes Oberelbe”, der “Ausgleich der Einnahmeausfälle” und die Folgen für die “Angebotsstrukturen” sollen nun betrachtet werden. Weiterhin soll die Einführung eines 15-€-Bildungsticket geprüft werden. Die CDU, die die Debatte losgetreten hatte, lehnte den Antrag am Ende ab.

2. Erhöhung der ÖV-Fahrpreise oder der Parkgebühren?

Obwohl der Stadtrat mit dem Prüfauftrag eine sinnvolle Verfahrensweise auf den Weg gebracht hatte, verhinderte die Debatte um ein 365-€-Ticket im Dezember 2019 wesentliche Fortschritte für die Verkehrswende. Grün-Rot-Rot hatte einen Beschluss des Stadtrats über die Zustimmung zur Fahrpreiserhöhung für den öffentlichen Nahverkehr im Verkehrsverbund VVO ab dem 1. August 2020 beantragt. Nachdem sich im Stadtrat eine Ablehnung abzeichnete, schlug OB Dirk Hilbert vor, Einnahmeausfälle der DVB durch eine Zuführung aus erhöhten Parkgebühren auszugleichen.

Während Grüne und SPD diesen Vorschlag sofort unterstützten, wollten CDU und Linke die vermeintliche Gelegenheit nutzen, ein 365-€-Ticket durchzusetzen. Zudem wollte die CDU nur zustimmen, wenn Pendler und Gewerbetreibende keine höheren Parkgebühren als bisher zahlen müssten. Eine Einigung kam nicht zustande. Nachdem die von der CDU und der Linken gewünschten Änderungen keine Mehrheit gefunden hatten, stimmte die CDU mit der gesamten Rechten (AfD, “Freie Wähler”, FDP) gegen den Vorschlag des OB, der deshalb bei 35 zu 35 Stimmen abgelehnt wurde.

Der CDU war also symbolpolitisch die Sturzgeburt eines 365-€-Jahresfahrscheins wichtiger, als eine konkrete Fahrpreiserhöhung für die Dresdnerinnen und Dresdner zu verhindern! Da eine Stadträtin der Linken entschuldigt fehlte, kann dennoch festgehalten werden: Im Stadtrat gibt es eine Mehrheit für die strategische Entscheidung mit den Einnahmen aus Parkgebühren eine dritte Finanzierungssäule der Verkehrsbetriebe aufzubauen.

III. Hat der 365-Jahresfahrschein den Anteil des Öffentlichen Verkehrs in Wien erhöht?

Im Mittelpunkt der Debatten um einen 365-€-Jahresfahrschein steht das Wiener Beispiel. Hat das “Wiener Modell” tatsächlich zu einer Verlagerung des Autoverkehrs zum Öffentlichen Verkehr geführt? Eine genauere Betrachtung zeigt, dass der Wiener Erfolg von den Befürworter*innen des 365-€-Tickets in seinen Voraussetzungen und Wirkungen höchst ausschnittsweise zu Kenntnis genommen und insgesamt verkannt wird.

1. Geringe Zunahme der Fahrgäste trotz Verdoppelung verkaufter Jahreskarten

Der Ökolöwe begründet seine Petition, der 365-€-Jahresfahrschein würde für “mehr Fahrgäste” sorgen, und “tausende AutofahrerInnen auf Bus und Bahn” umsteigen. Zum Beweis führt er wie auch die Dresdner Linke den starken Zuwachs verkaufter Jahreskarten in Wien an. Leider verwechseln beide die verkauften Jahreskarten mit dem Modal-Split-Anteil des ÖV. Sommer & Bieland, die das “Wiener Modell” wissenschaftlich untersucht haben, bestätigen zwar, dass sich nach Einführung der billigen Jahreskarte die Anzahl der Käufer zwischen 2011 und 2015 “fast verdoppelt” habe, dagegen sei die Fahrgastnachfrage nur um 8% gestiegen.2 Auch das Beratungsunternehmen civity stellt fest, ein “echter Neukundeneffekt” sei “eher vernachlässigbar”.3

2. Kein signifikant-dauerhaftes Wachstum des ÖV-Anteils

Weiter erklärt der Ökolöwe, der “Marktanteil (Modal Split) des öffentlichen Nahverkehrs” hätte sich in Wien “auf 38 Prozent” erhöht. Entgegen eines weit verbreiteten Irrtums ist der 365-€-Fahrschein aber nicht die Ursache.

a) Nach Sommer & Bieland sei nach Einführung des Jahresfahrscheins zunächst ein deutlicher Sprung zugunsten des ÖV eingetreten. Der Anteil des ÖV sei von 35 auf 39% gestiegen und der MIV-Anteil von 32 auf 27% gesunken.4 Die Autoren führen dies aber gerade nicht auf den 365-€-Fahrschein zurück:

“Die Ergebnisse zeigen, dass nach der Umsetzung des Wiener Modells demografische Veränderungen einen deutlich größeren Einfluss auf den Fahrgastzuwachs haben als alle Maßnahmen zusammen. Dies deckt sich mit der Entwicklung des ÖPNV-Anteils an allen Wegen der Wiener Bevölkerung, der sich zwischen den Jahren 2012 und 2015 nicht verändert hat (Abb. 3). Die preispolitischen Maßnahmen – im Wesentlichen Umsetzung des Wiener Modells und Parkgebührenerhöhung – scheinen daher die Fahrgastnachfrage und das Verkehrsmittelwahlverhalten nur gering beeinflusst zu haben”.5

Die Autoren halten es aber für möglich, den geringen Anstieg mit dem bereits sehr hohen ÖV-Anteil bei Einführung des Jahresfahrscheins zu erklären:

“Bei der Beurteilung der Wirksamkeit der (preispolitischen) Maßnahmen ist allerdings auch die Ausgangssituation zu berücksichtigen. Ein Gewinn zusätzlicher Marktanteile ist bei einem bereits sehr hohen ÖPNV-Anteil von fast 40 Prozent erheblich aufwendiger als bei einer deutlich geringeren Marktausschöpfung.”

b) Etwas andere Zahlen für Wien nennen der “Verband der deutschen Verkehrsunternehmen”, VDV, und die civity-Studie. Der ÖV sei von 2011 bis 2013 von bereits 37% auf 39% gestiegen, während der MIV von 29% auf 27% gefallen sei. 2018 hatte sich das Verhältnis wieder auf 38% ÖV zu 29% MIV verschlechtert. Die Einführung des 365-Euro-Tickets habe nur einen “leichten modal-split-Effekt” verursacht.6 Civity resümiert:

Im Gegensatz zu zahlreichen Presseberichten und entsprechend unserer Prognosen aus dem Jahr 2011 haben sich die Fahrgastzahlen seit der Tarifabsenkung der Jahreskarte auf 365 EUR nur moderat weiterentwickelt. Im Ergebnis wachsen die Fahrgastzahlen der Wiener Linien entsprechend dem allgemeinen Marktwachstum mit, genau genommen sogar leicht unterproportional“.7

Die größten Zuwächse des ÖV zu Lasten des MIV liegen vor der Einführung der 365-€-Jahreskarte: Das Verhältnis ÖV zu MIV änderte sich seit 1993 von 29% zu 40% auf 37% zu 29% im Jahr 2011 (civity S.11). Erstmals 2007/08 war der Anteil des ÖV höher als der MIV – ein Erfolg, der in deutschen Städten immer noch aussteht.

3. Kosten und Finanzierung des Jahrestickets

Der Ökolöwe behauptet weiter, das Wiener Ticket habe sich bereits nach 2 Jahren durch Mehrverkäufe selbst finanziert. Auch diese kühne Aussage kann sich nicht auf Fakten stützen.

Die Einführung der 365-€-Jahreskarte führte bei den Wiener Linien zu Mindereinnahmen in Höhe von 52 Mio €. Anders als in Deutschland finanzieren das Land Wien und Österreich den Öffentlichen Verkehr mit über 300 Mio € im Jahr!8 Wien erhebt dafür eigene Abgaben: Jeder Arbeitgeber hat 2 € je Arbeitnehmer und Woche zu bezahlen. Die Stadt erzielte damit 2013 Einnahmen von 67 Mio €.9 Wien hat auch die Parkgebühren angehoben, so dass sich die Einnahmen seit 2012 um ein Drittel auf 96 Mio € erhöhten.10 Schließlich beträgt das “Erhöhte Beförderungsentgelt” für einmal Schwarzfahren seit 2018 satte 105 €!11

4. Ausbau des ÖV: Der Schlüssel zum Erfolg!

Jedenfalls weist Wien einen um etwa 10 bis 15% höheren ÖV-Anteil auf als deutsche Großstädte. In Berlin beträgt das Verhältnis des MIV zu ÖV 34% zu 25%, in München 33% zu 23%, in Hamburg 36% zu 22% und in Köln 35% zu 21%.12 Die Gründe liegen in dem sehr dichten ÖV-Angebot Wiens, das deutlich mehr Haltestellenabfahrten je Hektar Siedlungs- und Verkehrsfläche als deutsche Großstädte anbietet. Civity führt aus:13

In Wien haben 93 Prozent aller Einwohner und 86 Prozent der Siedlungsfläche einen direkten fußläufigen Zugang zum öffentlichen Verkehr. 74 Prozent aller Einwohner und 47 Prozent der Siedlungsfläche werden von einem schienengebundenen Verkehrsmittel erschlossen

Dagegen beträgt der Anteil erschlossener Einwohnerinnen und Einwohner in München nur 62%, in Berlin 58%, in Köln 54% und in Hamburg 31%.14 Die Erfolge in Wien sind somit Früchte eines jahrzehntelangen Ausbaus des Öffentlichen Personennahverkehrs und einer klugen Stadtentwicklung entlang von ÖV-Achsen.

5. Zusammenfassung

Das Beratungsunternehmen civity fasst seine Ergebnisse so zusammen:

Unsere Studie zeigt deutlich: die wesentlichen Treiber des Erfolgs des Wiener Wegs liegen in einer ÖV-freundlichen Siedlungsstruktur, einem sehr attraktiven ÖPNV-Angebot und einer restriktiven Parkraumbewirtschaftung. Weder die Einführung der 365-Euro- Jahreskarte noch die weitere Intensivierung der Parkraumbewirtschaftung haben signifikante Modal Split-Effekte nach sich gezogen, sondern allenfalls den ohnehin bereits hohen Anteil des öffentlichen Verkehrs gehalten.

IV. Zum Stand der Bemühungen um Klimaschutz und Verkehrswende in Dresden

Die Bemühungen zur Reduzierung der klimaschädlichen Treibhausgasemissionen in Dresden sind sowohl nach ihren Zielen als auch ihren Ergebnissen völlig unzureichend, und zwar gerade im Verkehrsbereich.

1. Weder problemangemessene Ziele noch Fortschritte im Klimaschutz

Die Stadt ist in den neunziger Jahren dem sog. “Klimabündnis der Städte” beigetreten. Sie hat sich verpflichtet, um 2075 (!) eine Pro-Kopf-Emission von 2,5t (!) im Jahr zu erreichen; dafür sollten die Treibhausgasemissionen alle 5 Jahre um 10% sinken. Das “Integrierte Energie und Klimaschutzprogramm” von 2013 und der Verkehrsentwicklungsplan VEP von 2014 haben diese Ziele übernommen, aber nicht einmal annähernd erreicht: Die durchschnittlichen Pro-Kopf-Emissionen der Dresdnerinnen und Dresdner liegen seit langem bei gut 10t im Jahr. Auch die Treibhausgasemissionen aus dem Verkehr liegen konstant bei einem Drittel aller Emissionen, bei 3,2 t pro Kopf – und damit auf dem Niveau von 2005.15 Der VEP hält es schon für einen Erfolg, dass die CO-2-Emissionen trotz der an Bevölkerung und Wirtschaftsleistung wachsenden Stadt nicht gestiegen sind.16

Die Ziele der Dresdner “Klimaschutz”-Politik sind grotesk ungeeignet, schwerwiegende Klimaveränderungen zu vermeiden. Nach dem Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 soll bis 2050 Klimaneutralität erreicht werden, also nicht mehr Treibgausgase freigesetzt werden, wie durch natürliche CO-2-Senken wie Wald und Humus gespeichert werden.17 Die Klimabewegung um Fridays for Future fordert aber zu Recht, Klimaneutralität schon bis 2035 zu erreichen, also in 15 Jahren!

Wir brauchen für angemessene Klimaschutzbemühungen zuerst ein echtes Dresdner Klimaschutzprogramm, das diesen Namen auch verdient, und Klimaneutralität in 15 Jahren zum Ziel hat. Die Grüne Stadtratsfraktion hat sich im Juli 2019 zu diesem Ziel bekannt, nun steht es auch in der Kooperationsvereinbarung mit der Linken und der SPD vom Dezember 2019. Jetzt kommt es darauf an, dieses Ziel jenseits aller “Notstands”-Rhetorik durch den Stadtrat zu bringen, mit konkreten Maßnahmen in den Bereichen Energie, Wohnen und Verkehr zu untersetzen und mit langem Atem bei konkreten Entscheidungen umzusetzen.

2. CO-2-Emissionen aus dem Verkehr stagnieren auf hohem Niveau

Ziel der Verkehrswende ist die Abkehr von der klima-, umwelt- und stadtunverträglichen Auto-Vorrangpolitik der letzten 100 Jahre und der Aufbau einer umwelt-, klima- und stadtverträglichen sowie bezahlbaren Mobilität für alle. Von den 3,2t Treibhausgasemissionen pro Kopf und Jahr im Verkehrsbereich18, verursachte der MIV mit 1,2 t den größten Teil, gefolgt vom Flug- und Ferngüterverkehr mit je 0,9t und dem ÖV mit nur 0,2t. Der fossil angetriebene Autoverkehr setzt daher sechsmal soviel Treibhausgase je gefahrenem Kilometer frei wie der ÖV!

Klimaschutzprogramm und Verkehrsentwicklungsplan bemühen sich erst gar nicht um eine Minderung der Flug- und Güterverkehrsemissionen, da die Stadt darauf keinen Einfluss hätte – das sind 60% aller Verkehrsemissionen! Dresden könnte allerdings seine Anteile am Flughafen Dresden verkaufen.

3. “Verkehrswende” heißt Wachstum des ÖV auf Kosten des MIV

Wenn bis 2035 keine Treibhausgase mehr emittiert werden sollen, müssen die Bürgerinnen und Bürger ihre Wege zuerst zu Fuß oder auf dem Rad, dann durch einen ÖV, der mit Erneuerbaren Energien betrieben wird, schließlich und zuletzt durch erneuerbar elektromobilen oder wasserstoffgetriebenen Individualverkehr erledigen.

Der richtige Maßstab für Klimaschutz und Verkehrswende ist daher, ob und wie der Fuß- und Radverkehr sowie ein klimaneutral betriebener ÖV dem fossilen Autoverkehr Anteile an den zurückgelegten Wegen und Kilometern abnimmt.

a) Vor allem der Anteil des klimaneutralen Radverkehrs muss erheblich wachsen. Ebenso muss der um den Faktor 6 klimafreundlichere ÖV-Sektor auf Kosten des fossil betriebenen und ineffizienten motorisierten Individualverkehrs stark wachsen. Straßenbahnen und Busse müssen auf Erneuerbare Elektromobilität umgestellt werden. Die elektrisch betriebenen Straßen- und S-Bahnen werden schon fortlaufend um so weniger klimaschädlich, je höher der Anteil der Erneuerbaren Energien im Strommix steigt, der 2019 schon 46% betrug. ÖV und Rad dürfen sich aber nicht gegenseitig Konkurrenz machen.

b) Leider ist festzustellen, dass der Anteil des ÖV in Dresden in den letzten Jahrzehnten nicht etwa gestiegen, sondern gesunken ist, nämlich von 1994 24% auf 22% im Jahre 2013.19 Damit liegt Dresden im oberen Mittelfeld deutscher Großstädte.20 Der Autoverkehr ist von seinem Höchststand von 44% im Jahr 1998 durch Wachstum des Fuß- und Radverkehrs nur auf 39% 2013 gesunken. Damit ist der Anteil des MIV deutlich höher als in Berlin, München oder Köln. In den letzten Jahren sind die Fahrgastzahlen der DVB zwar gewachsen, aber nur im Takt des Bevölkerungswachstums.21 Modal-Split-Anteile hat er dem MIV nicht abgenommen.

4. Modal-Split-Ziele alt …

Da Klimaneutralität bisher überhaupt nicht angestrebt wurde, setzten die Programme bis 2025 / 2030 nur einen Radanteil von 20% und einen ÖV-Anteil von 25% zum Ziel. Der MIV-Anteil soll nur auf 33% sinken und damit weiterhin der anteilstärkste Verkehrsträger bleiben. Entsprechend soll der Umweltverbund aus Fuß, Rad und ÖV “mehr als nur 60 % aller Wege” abdecken, wie es schamhaft heißt.22 Daher fehlt es auch an Erfolgen: Nicht einmal das Ziel, den MIV innerhalb des 26er-Rings um 5% zu reduzieren, ist erreicht worden!23 Diese sogenannten “Ziele” schreiben den klimaschädlichen Status Quo als “Klimaschutz” fest und sind nicht ernst zu nehmen. Sie spiegeln den Verzicht auf eine engagierte Klimaschutz- und Verkehrswendepolitik und sind angesichts der Klimakatastrophe schlicht indiskutabel.

…. und neu!

Ziel einer ökologischen ÖPNV-Politik in Dresden muss es sein, den Anteil des ÖV an allen zurückgelegten Wegen von derzeit 22% auf 30% im Jahre 2030 zu steigern. Dieses Ziel hat der Stadtrat im Frühjahr 2019 mit dem Nahverkehrsplan als Prüfauftrag beschlossen, übrigens mit den Stimmen der CDU!24 In entsprechendem, aber nicht beziffertem Umfang soll der motorisierte Individualverkehr sinken. Weiterhin soll der Anteil des Radverkehrs durch die Umsetzung des 2017 beschlossenen Radverkehrskonzepts bis 2025 auf 25% steigen. Wie der gegenwärtige Stand ist, werden bald die Ergebnisse der SrV – Erhebung 2018 zeigen.

VI. Erfolgsfaktoren für Bahnen und Busse

Das 365-€-Ticket wäre ein Baustein der Verkehrswende, wenn es mehr Menschen vom Auto in S- und Straßenbahnen ziehen würde, ohne dem Ausbau des Radverkehrs zu schaden. Dies ist aber nicht der Fall. Das billige Jahresticket in Wien hat eben zu keiner signifikanten und dauerhaften Verlagerung geführt. Entscheidend war die gute Angebotsstruktur, die bereits vor Einführung des Jahrestickets geschaffen worden war. Daher ist die Angebotsstruktur Dresdens und ihre Defizite im Vergleich zu Wien zu betrachten.

1. Die DVB haben kein Nachfrage-, sondern ein Angebotsproblem!

Die Befürworterinnen und Befürworter eines 365-€-Fahrscheins gehen von einer unausgesprochenen Voraussetzung aus. Sie meinen, der ÖV hinke dem Autoverkehr hinterher, weil der ÖV zu teuer sei. Der ÖV würde mehr genutzt werden, wenn er billiger wäre. Diese Überlegung ist falsch. Denn die Fahrpreise sind jetzt schon im Vergleich zum MIV unschlagbar günstig. ÖV-Gelegenheitsnutzer, die den Einzelfahrschein der DVB zu teuer finden, vergessen, welche Unsummen sie jeden Tag für ihr Stehzeug verbrennen. Zudem: Die DVB haben kein Nachfrageproblem. Die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer ist bis 2018 auf 163 Mio Fahrgäste gewachsen. Die DVB laufen aber auf ein Angebotsproblem zu, weil sie absehbar den Zuwachs nicht mehr werden bewältigen können. Dies kann jede und jeder täglich in den vollen S-Bahnen und Straßenbahnen erleben.

2. Angebotsstrukturen in Dresden und Wien

Die Angebotsstrukturen in Wien unterscheiden sich signifikant von Dresden: Das dreimal bevölkerungsreichere Wien hat neben S-Bahnen, Straßenbahnen und Bussen auch eine U-Bahn. Die Zahl der “Haltestellenabfahrten” je Quadratkilometer (Kombination aus Anzahl der Haltestellen und Zahl der Abfahrten) ist deutlich besser als in deutschen Großstädten.25 Dass ein gutes ÖV-Angebot positive Wirkungen auf den modal-split hat, zeigen auch die sehr unterschiedlichen ÖV-Anteile in den Dresdner Stadtteilen, so in Plauen: 30%, Prohlis: 25%, Altstadt, Neustadt und Cotta: 23%, Leuben: 22%, Blasewitz: 20%, Loschwitz, Klotzsche und Pieschen: 17%.26

3. ÖPNV in Dresden: Zu langsam und lückenhaft

Für die direkte Konkurrenz zwischen MIV und ÖV sind der Grad der individuellen Motorisierung sowie die Geschwindigkeit der Verkehrsträger von Bedeutung. Der Motorisierungsgrad ist in Dresden mit 404 PKW je 1000 Einwohner etwas höher als in Wien (382 / 1000).27 Allerdings ist die Durchschnittsreisezeit mit dem Auto mit 26,1 kmh in Dresden signifikant schneller als die der Straßenbahn mit 19,3 kmh.28 Der Nahverkehrsplan zeigt auf den wichtigsten Verbindungen den ÖV-Anteil an. Während zwischen Neustadt, Blasewitz, Plauen und Zentrum Anteile über 50% erreicht werden, liegen sie in weiterem Abstand um das Zentrum zwischen 30 und 50% und insbesondere in den Tangenten Leuben / Blasewitz nach Prohlis sowie von dort nach Cotta, Pieschen und Plauen unter 30%.29 Ziel der Verkehrswende muss es sein, diese Wettbewerbsnachteile des ÖV auszugleichen. Hoher Handlungsbedarf besteht für den ÖV von Prohlis und Gorbitz ins Stadtzentrum aber auch auf fast allen weiteren Relationen. Schlechte Geschwindigkeitswerte (sog. “LOS-Werte”) hat die Straßenbahn auf der Königsbrücker Straße, Antonstraße, Könneritzstraße, Güntzstraße, Lennéstraße, Fetscherstraße und der Bodenbacher Straße. Beim Busnetz sind die Dohnaer Straße, Teplitzer Straße, Zellescher Weg, Nossener Brücke, Washingtonstraße und Blaues Wunder zu nennen.30

4. Erhöhung der Parkgebühren und Ausweitung der gebührenpflichtigen Parkzonen

Die österreichische Hauptstadt hat eine weit größere Fläche der Stadt als gebührenpflichtige Parkzone ausgewiesen als deutsche Großstädte; die Anzahl der bewirtschafteten Parkplätze ist seit 2011 um 149% gestiegen!31 Die Parkstunde kostet seit 2017 2,10 €. Es wirft ein grelles Schlaglicht auf die mangelnde Ernsthaftigkeit der CDU, dass sie sich einer Erhöhung der Parkgebühren verweigert. Wer das “Wiener Modell” in Dresden einführen will, der muss einer Ausweitung des bepreisten Innenstadtbereichs und ein Stunden-Parkpreis von mindestens 2,50 € (entspricht dem Einzelfahrschein) unterstützen.

5. ÖPNV zu Lasten des Radverkehrs ist aus Klimaschutzgründen abzulehnen

Die Stadt Wien hat zwar einen etwa 15% höheren ÖV-Anteil, aber zugleich mit nur 7% einen etwa um gut 10% niedrigeren Radanteil als deutsche Städte. Offenbar bedingen sich hoher ÖV-Anteil und niedriger Radverkehrsanteil32 Aus klimapolitischen Gründen ist aber ein wesentlich höherer Radanteil anzustreben. Rot-Grün-Rot hat mit dem Radkonzept 2017 den Bau eines systematisch sinnhaften und sicheren Radverkehrsnetzes bis 2025 beschlossen und Mittel und Personal bereit gestellt. Der Anteil des Radverkehrs soll 2025 mindestens 25% erreichen. Gerade ein sehr günstiges Jahresticket wäre aber geeignet, dem Rad auf Kurzstrecken unerwünschte Konkurrenz zu machen und dieses Ziel zu verfehlen.

6. Untragbare Kosten für die DVB

Die Absenkung der Kosten für einen Jahresfahrschein von 623 € auf 365 € würden der DVB Einnahmeausfälle in Höhe von etwa 30 Mio € im Jahr bescheren. Trotz eines erhöhten Nachfragepotentials von etwa 15% der Einwohner (etwa 85.000 Personen) würden die Einnahmeverluste nicht ausgeglichen.33 Auch andere Verbünde rechnen mit horrenden Beträgen, so der Verkehrsverbund Rhein / Main, der sich beim Bund ebenfalls als “Modellprojekt” beworben hat, mit Kosten von 190 Mio € im Jahr.

7. Dauerhafte Finanzierung ist unmöglich

Zunächst: Einen “kostenlosen” oder mit dem 365-€-Fahrschein so gut wie kostenlosen Nahverkehr gibt es nicht! Die Kosten für das kollektive öffentliche Mobilitätssystem sind immer zu tragen. Es geht nur um die Verteilung der Kosten: Welchen Anteil sollen die Nutzer*innen über Fahrscheinpreise tragen und wie hoch fällt die Quersubventionierung aus den Gewinnen kommunaler Energieunternehmen oder die Unterstützung aus kommunalen oder staatlichen Kassen aus?

a) In Deutschland findet die Förderung aus öffentlichen Kassen durch Investitionsförderungen, nicht durch Betriebszuschüsse statt. Dagegen liegt die Subventionierung aus öffentlichen Kassen in Wien bei über 300 Mio € im Jahr. Ins Verhältnis zur Einwohnerzahl Dresdens gesetzt, müssten also dauerhaft 100 Mio € aus dem Stadthaushalt fließen oder vom Land oder Bund gezahlt werden! Dies ist haushalterisch nur auf Kosten anderer kommunaler Aufgaben zu machen. Eine “Dienstgeberabgabe” wie in Wien ist in Deutschland rechtlich nicht zulässig.

b) Befürworter des 365-€-Tickets wie die Linke haben daher die Verdoppelung der Quersubventionierung aus den Gewinnen der DREWAG von jährlich 40 auf 80 Mio € vorgeschlagen. Eine derart hohe Querfinanzierung ist in Dresden auch nicht annähernd zu leisten. Die DVB hat mitgeteilt, dass sie mittelfristig 54 Mio € benötigt, nur um den Stand zu halten. Die Erlöse der DREWAG werden aber voraussichtlich sinken, so dass eine Verdoppelung der Querfinanzierung völlig illusorisch ist. Überdies sind die Technischen Werke Dresden, der Mutterkonzern der DREWAG, durch den vom Stadtrat beschlossenen Rückkauf der Anteile der THÜGA belastet. Auch die Aufwendungen der TWD für den defizitären Bäderbetrieb steigen.

c) Der Vorteil des Tickets ist die Signalwirkung für billigen Nahverkehr nach dem Motto “1 € Bahn und Bus am Tag”. Eine Erhöhung über die magische Zahl “365” hinaus würde diesen Werbeeffekt zerstören. Aber auch die Einzelfahrscheine und Zeitkarten können nur schwer erhöht werden, weil ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis gegenüber dem billigen Jahresfahrschein immer schlechter würde. Die Einführung des 365-€-Jahresfahrscheins würde zu einem sogenannten “lock-in-Effekt” führen. Die Säule der Nutzerfinanzierung bricht also mit dem 365-€-Fahrschein je länger je mehr weg.34

Diese Rahmenbedingungen unterstreichen, wie notwendig der Aufbau einer dritten Finanzierungssäule durch erhöhte Parkgebühren ist, wie sie im Dezember im Stadtrat noch gescheitert ist. Die zusätzlichen Mittel müssen der DVB für den Ausbau ihres Angebots zur Verfügung gestellt werden.

8. RGR hat die ÖV-Tarife bereits gesenkt!

Wer die aufgeregte Debatte um ein 365-€-Jahresticket in Dresden beobachtet, gewinnt den Eindruck, die Öffentlichkeit habe die Preissenkungserfolge der rot-grün-roten Kooperation seit 2014 überhaupt nicht mitbekommen. Eine der ersten Maßnahmen von Rot-Grün-Rot war die Ausweitung des 2011 eingeführten Dresdner Sozialtickets – übrigens von CDU, AfD und FDP wütend bekämpft! Dresden-Pass-Inhaber können eine Abo-Monatskarte für die Hälfte des üblichen Preises erwerben, derzeit 25,95 €. Die Anzahl der Nutzerinnen und Nutzer hat sich seitdem von etwa 6000 auf über 17.000 fast verdreifacht!Da zugleich die Zahl der Abo-Monatskarteninhaber von etwa 1800 auf nur ca. 900 sank, haben die DVB mit dem Sozialticketneue Kundinnen und Kunden gewonnen. Der Stadtrat hat kürzlich die Einbeziehung der Wohngeldempfänger*innen in den Kreis der Dresden-Pass-Berechtigten beschlossen. Die begünstigten Personenkreise werden dadurch weiter anwachsen. Rot-Grün-Rot hat zudem ab dem 1.8.2018 einen großen familienpolitischen Erfolg im VVO durchgesetzt: Abokarteninhaber können nun auch in der Woche ab 18 Uhr und nicht mehr nur am Wochenende eine erwachsene Person und bis zu vier Kindern bis 14 Jahre mitnehmen. Schließlich hat es 2019 keine Preiserhöhung gegeben.

9. Ungerechte sozialpolitische Verteilungswirkung eines 365-€-Tickets

Auch sozialpolitische Gründe sprechen gegen einen 365-€-Jahresfahrschein. Mit Kosten von 30 € im Monat wäre er annähernd ein Sozialticket für alle. Er würde auch Personen begünstigen, die sich mehr als 1 € am Tag für einen Fahrschein leisten können. Die radikale Absenkung des Jahrespreises um gut 40% würde allein einkommensstarke Schichten der Bevölkerung begünstigen, und zwar auf Kosten der Stadtkasse und der ÖV-Angebote, auf die gerade einkommensschwache Schichten angewiesen sind. Wie bei der Frage der Kitagebühren geht es um die sozialpolitische Grundsatzfrage, ob staatliche Subventionen mit der Gießkanne über alle ausgeschüttet oder zielgenau nur für Bedürftige ausgegeben werden sollten. Leider bestätigt die öffentliche Debatte um den billigen Jahresfahrschein wieder die alte Erfahrung, dass die begünstigten einkommensstarken Schichten politisch lautstärker sind, als die eigentlich Bedürftigen, die sich weitgehend aus dem politischen Prozess zurückgezogen haben. Es bleibt die unbequeme Wahrheit, dass mit dem 365-€-Fahrschein öffentliche Gelder verschwendet werden, die für den Ausbau sozialer Infrastrukturen wie der öffentlichen Verkehrsangebote dringend gebraucht würden.

VI. Notwendige Angebotsverbesserungen im ÖV Dresden

Die Debatte um einen 365- €-Jahresfahrschein kann deshalb so hoch kochen, weil die Defizite des ÖV in Dresden nicht im öffentlichen Bewusstsein sind. Oder die politischen Agitatoren der Austrocknung des ÖV-Angebots sind mehrheitlich mit dem PKW unterwegs. Die Anstrengungen für den Ausbau des Straßenbahn-, S-Bahn- und Busnetzes müssen die erheblichen Geschwindigkeitsnachteile gegenüber dem MIV ausgleichen und Netzerschließungslücken schließen. Für einen Umstieg vom Auto darf der ÖV nur bis zu 10 Minuten langsamer als der Autoverkehr sein. Leider ist das auf vielen Relationen nicht der Fall.35 Das 30%-ÖV-Ziel 2030 muss mit konkreten Maßnahmen umgesetzt werden.

1. Ausbau der S – Bahnen und Halte

Der VVO strebt bis 2030 eine Steigerung der Fahrgastzahlen um 24% an. Das SPNV – Zielnetz strebt eine Taktverdichtung der S-Bahn zwischen Meißen und Pirna auf annähernd 10 Minuten, mehr schnelle Verbindungen nach Görlitz und Zittau, den Neubau der Eisenbahnstrecke nach Königsbrück, Halbstundentakt nach Kamenz und Bautzen oder die Einführung eines Regionalexpresses aus Usti an. Wir brauchen S-Bahn-Anschlüsse und Taktverdichtungen auf den wichtigen Pendlerstrecken von und nach Dresden. Denn aus Umlandgemeinden mit S-Bahn-Anschluss ist der ÖV-Anteil nach Dresden mit 24% statt 10% signifikant höher.36 Dass Ausbau wirkt, zeigt die Eröffnung des S-Bahn-Halts Bischofsplatz, auf dem 1700 Fahrgäste am Tag zusteigen und abfahren. Weitere S-Bahn-Halte in Dresden sollen an der Stauffenbergallee, in Klotzsche und in Strehlen sowie der Verknüpfungspunkt Cotta gebaut werden.

2. Neue Stadtbahnwagen und Stadtbahn “2020”

Die DVB plant bis 2023 die Anschaffung von 30 neuen 45 m langen und 2,65 m breiten Bahnen, um so die steigende Nachfrage abdecken zu können. Leider hängt der Streckenausbau für die nachfragestarken Linien 3 und 7 auf den Drei-Meter-Achsabstand hinterher. Der Stadtrat hat die Ausbauplanung für die Königsbrücker Straße schon 2016, für die Großenhainer Straße und die Kesselsdorfer Straße 2018 beschlossen. Die wichtigste Netzerweiterung ist der Bau der “Stadtbahn 2020”, die schon 2010 fraktionsübergreifend beschlossen wurde. Sie besteht aus den Zweigen Löbtau – Strehlen und Johannstadt – Plauen. Bisher ist erst die Zentralhaltestelle Kesselsdorfer Straße und der Abschnitt Oskarstraße bis zum Haltepunkt Strehlen 2019 eröffnet worden. Es geht nicht vorwärts, weil die Deutsche Bahn wie üblich im Schneckentempo “kooperiert”, aber auch die Verwaltung nicht den notwendigen Arbeitsdruck entfaltet hat. Deshalb hat Rot-Grün-Rot im Jahre 2017 eine Lenkungsgruppe zwischen Stadtrat und Verwaltung eingesetzt, um die Planungen zu beschleunigen. Die Arbeit ist aber erloschen, nachdem CDU und FDP in ihrem Antrag zum vierspurigen Ausbau des Zelleschen Weges auch die Abschaffung der Lenkungsgruppe verlangt haben. Uneinigkeit des Stadtrats führt eben dazu, dass die Verwaltung in ihrem Eigenleben versinkt!

3. Großer Nahverkehrsantrag von RGR

Die RGR-Kooperationsfraktionen haben im Juli 2018 einen “Großen Nahverkehrsantrag” eingebracht, der im März 2019 auch mit den Stimmen der CDU beschlossen wurde. Er soll die Ziele der Dresdner Verkehrsbetriebe über den Bau der Stadtbahn 2020 hinaus in den Zeitabschnitten bis 2025 und 2030 vorgeben. Die Verwaltung soll für den Planungshorizont 2030 Konzepte für einen besseren “ÖPNV auf strategisch wichtigen Relationen innerhalb der Stadt sowie von ein- und ausbrechenden Verkehren ins Umland” und ein mit der DVB abgestimmtes Konzept mit den Prioritäten und den notwendigen finanziellen Mitteln vorlegen. Die Maßnahmen sind im Rahmen der Evaluierung des Verkehrsentwicklungsplans 2025 zu betrachten. Schließlich sollen DVB und Stadt Tarifmaßnahmen vorschlagen, “die geeignet sind, den Anteil des ÖPNV zu erhöhen”. Preissenkungen sollen also geprüft werden, wenn sie einen höheren modal-split-Anteil erwarten lassen. Der Stadtrat soll für jede Maßnahme ein “Preisschild” und eine Angabe des Nutzens erhalten, um politisch entscheiden zu können. Leider waren Stadtverwaltung und DVB bisher nicht in der Lage oder willens, das Strategiepapier vorzulegen.

4. Nachfragepotentiale für den ÖV

Der Nahverkehrsplan weist vor allem starke Nachfragepotentiale in der Südtangente zwischen Cotta, Plauen und Prohlis sowie zwischen Pieschen nach Neustadt aus. Auch zwischen Plauen, Altstadt, Neustadt und Klotzsche sowie zwischen Altstadt, Blasewitz und Prohlis können viele neue Kundinnen und Kunden gewonnen werden.37Der Stadtrat hat 2019 die Einrichtung einer neuen Buslinie 68 im Zehnminutentakt zwischen Cossebaude und Leubnitz beschlossen. Der bustaugliche Ausbau der Augsburger Straße, der weitere 1.800 Einwohner*innen anschließen würde, der Tittmannstraße, der Zschertnitzer Straße oder der Stauffenbergallee West stehen aus.Weiter sollen Betriebs- und Linienkonzepte zur Umsetzung einer Nordosttangente über die Waldschlösschenbrücke und einer Südwesttangente über die Flügelwegbrücke geprüft werden.

5. Ein Bildungsticket für 15 € und ein verbundweites Sozialticket

Anstelle eines nutzlosen, unfinanzierbaren und ungerechten 365-€-Fahrscheins sollte der eingeschlagene Weg der Verbesserungen für Abo-Monatskarten-Inhaber und für besondere Bedarfsgruppen fortgesetzt werden. Vorrangig ist jetzt ein Bildungsticket für alle Schülerinnen und Schüler sowie Auszubildende für 15 € im Monat.38 Dieses Bildungsticket wäre um die Hälfte günstiger als ein 365-€-Jahresfahrschein und sozial- wie familienpolitisch zielgenau. Die Stadtverwaltung schätzt die Kosten eines Bildungstickets auf knapp 5 Mio €. Nach dem schwarz-grün-roten Koalitionsvertrag vom 1. Dezember 2019 ist mit einer Landesförderung zu rechnen. Weiterhin sollte ein Sozialticket aus dem VVO-Gebiet in das Oberzentrum Dresden eingeführt werden.

VII. Fazit

(1) Ein 365-€-Jahresfahrschein ist unnötig, weil die DVB kein Nachfrage-, sondern ein Angebotsproblem hat. Er ist ungeeignet, weil es den ÖV-Anteil nicht erhöht, und er ist teuer, weil er zu hohen und nicht ausgleichbaren Einnahmeausfällen führt. Er schadet Klimaschutz und Verkehrswende, weil er Mittel für dringende Angebotsverbesserungen auffrisst. Er ist unsozial, weil es auch Einkommensreiche fördert, die es nicht nötig haben.

(2) Für Klimaschutz und Verkehrswende ist dringend ein neues Klimaschutzprogramm mit dem Ziel der Klimaneutralität 2035 und ein neuer Verkehrsentwicklungsplan aufzustellen, der sich an diesem Klimaschutzziel, dem 30%-modal-split-Ziel 2030 für den ÖV und dem Radverkehrskonzept 2017 mit dem Ziel 25% Radanteil 2025 ausrichtet. Der Anteil des Fußverkehrs soll 2030 zwischen 25 und 30% und des Autoverkehrs bei 15 – 20% liegen, der aber klimaneutral betrieben wird. Der Umweltverbund soll also 80 – 85% betragen.

(3) Für die Angebotsverbesserung im ÖV ist die schnelle Herstellung der Befahrbarkeit für die neuen Stadtbahnwagen, der schnelle Bau der Stadtbahnen Löbtau – Strehlen, Johannstadt – Plauen sowie Strehlen – Schillerplatz und eine weitere Verdichtung des S-Bahn-Netzes in Dresden und des Regionalbahn-Netzes entsprechend des SPNV-Zielnetzes des VVO erforderlich. Die Nachfragepotentiale vom Zentrum in die südlichen Stadtteile und in den Tangenten sind zu heben.

(4) Mit einer Erhöhung der Stunden-Parkgebühr für die Innenstadt auf die Kosten eines Einzelfahrscheins ist Wettbewerbsgleichheit zwischen ÖV und MIV herzustellen. Die Einnahmen sind der DVB als dritte Finanzierungssäule neben den Fahrgeldeinnahmen und der Querverbundsfinanzierung aus den Gewinnen der DREWAG zuzuweisen.

(5) Tarifpolitisch hat die Einführung eines 15-€-Bildungstickets und eines verbundweiten Sozialtickets Vorrang.

1Dazu die ablehnende Stellungnahme des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen, VDV, LVZ vom 28.2.2019.

2Carsten Sommer / Dominik Bieland, Das “Wiener Modell” – ein Modell für deutsche Städte?, Der Nahverkehr 9/2018, S.53ff, 59.

3Civity, Das beste Angebot ist nicht der Preis – Der “Wiener Weg”: Weit mehr als die 365-Euro-Jahreskarte, 2019, S.24.

4Sommer / Bieland. S. 57 Abb.3.

5Sommer / Bieland, S.59.

6Civity, S.11f. mit Abb.1. VDV, Freifahrt oder 365-Euro-Tickets: Kosten und Wirkung für die Verkehrswende, Graphik S.2.

7Civity, S.24.

8Civity, S.26.

9Civity, S.38 mit Abbildung 26.

10Sommer / Bieland, S.60.

11Civity, S.28.

12Civity, S.13.

13Civity, S.21.

14Civity, S.20.

15VEP-Evaluierungsbericht, S.42.

16VEP, S.15.

17https://www.bmu.de/themen/klima-energie/klimaschutz/internationale-klimapolitik/pariser-abkommen/ .

18VEP-Evaluierung, S.41f. Neuere Zahlen liegen nicht (!) vor.

19VEP-Evaluierung, S.32.

20Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestags, Modal Split in ausgewählten deutschen Großstädten, November 2017 – https://www.bundestag.de/blob/535044/f9877fd834da2c1bf7c7bb02299da09e/wd-5-084-17-pdf-data.pdf .

21VEP-Evaluierung, S.37.

22VEP, S.87.

23VEP-Evaluierung, S.26.

24Nahverkehrsplan, S.138.

25Civity, S.19 mit Abbildung 4. Leider liegt eine entsprechende Zahl für Dresden nicht vor. Der VEP-Evaluierung, S.39, dass 93% der Einwohner*innen in fußläufiger Entfernung eine Haltestelle hätten. Die Kriterien sind 300m im Zentrum um Straßenbahn- oder Bushaltestelle, 400m im weiteren Stadtgebiet und 600m um S-Bahnhöfe. Der Graphik 18.2 ist auch die Anzahl der nicht erschlossenen Einwohnerinnen und Einwohner zu entnehmen

26Nahverkehrsplan, S.55.

27VEP-Evaluierung, S.24. Sommer / Bieland, S.55.

28VEP-Evaluierung, S.35.

29Nahverkehrsplan, Graphik 18.6.

30Nahverkehrsplan, S.85 mit Graphik 18.3.

31Civity, S.31ff. mit Abbildung 15.

32Civity, S.13 vermutet, dass der “sehr attraktive ÖV substituiert möglicherweise teilweise auch den Fahrrad- und Fußverkehr”.

33Präsentation des Geschäftsführers der DVB, Herrn Hemmersbach, im Ausschuss für Stadtentwicklung, Bau, Verkehr und Liegenschaften im April 2019.

34Civity, S.26.

35Nahverkehrsplan. S.80f.

36Nahverkehrsplan, S.53.

37Nahverkehrsplan, S.91f.

38Der Antrag der Grünen Fraktion befindet sich im Geschäftsgang des Stadtrats.

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