Neue Corona-Verordnung: Versammlungen in Sachsen manchmal jetzt auch offiziell wieder zulässig

Die neue Corona-Verordnung der sächsischen Staatsregierung vom 17. April, die am 20. April in Kraft trat, verbietet nicht mehr das Verlassen der eigenen Wohnung, sondern bestimmte Kontakte in der Öffentlichkeit. Auch bei diesem grundrechtsfreundlicheren Ansatz kommt es aber letztlich auf das konkrete Verbot an.

Die Allgemeinverfügung vom 31. März enthielt ohne Ausnahmemöglichkeit ein Verbot von “öffentlichen und nichtöffentliche Veranstaltungen sowie sonstige Ansammlungen, bei denen es zu einer Begegnung von Menschen kommt, sowie Versammlungen unabhängig von der Zahl der Teilnehmenden”. Auch die jetzt ersetzte Rechtsverordnung sah keine Ausnahmemöglichkeit vor und strich zudem mit dem “insbesondere” die Möglichkeit, über die aufgezählten Fälle triftiger Gründe hinaus, eine Versammlung doch noch zuzulassen.

Die neue Verordnung vom 17. April enthält nun ausdrücklich eine Genehmigungsmöglichkeit für öffentliche Zusammenkünfte. Nach § 3 Abs.1 Satz 1 sind “alle Veranstaltungen, Versammlungen und sonstige Ansammlungen untersagt.” Aber gemäß Abs.3 “können” “im Einzelfall Ausnahmegenehmigungen auf Antrag insbesondere für Versammlungen im Sinne des Sächsischen Versammlungsgesetzes vom zuständigen Landkreis oder der zuständigen Kreisfreien Stadt erteilt werden, soweit dies aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist.”

I. Bisherige Rechtsprechung und Praxis

1. Richterliche Flucht in die Folgenabwägung

Die sächsische Rechtsprechung hatte das generelle Versammlungsverbot leider für rechtmäßig gehalten.

(1) VG Dresden vom 30. März

So entschied die 6. Kammer des Verwaltungsgerichts Dresden am 30. März, dass auch Schutzmaßnahmen des Veranstalters gegen Infektionen generell ungeeignet seien:

“Denn es liegt weder im Einflussbereich des Antragstellers, wie viele Teilnehmer tatsächlich zu der von ihm angezeigten Versammlung kommen, noch kann er hinreichend gewährleisten, dass die Teilnehmer die von ihm angedachten Maßnahmen auch tatsächlich beachten und umsetzen. Eine Einflussmöglichkeit, die er gegebenenfalls als Versammlungsleiter wahrnehmen kann, hat er weder für die Anreise noch für die Abreise der Teilnehmer.”

Dies gelte insbesondere, weil die Versammlung

“an einem in Dresden selbst in hiesigen Zeiten stark frequentierten Ort – namentlich dem Postplatz als Verkehrsknotenpunkt des öffentlichen Personennahverkehrs – abgehalten werden soll, bereits ihrem Zweck nach darauf ausgerichtet ist, Aufmerksamkeit über den unmittelbaren Teilnehmerkreis hinaus auch bei unbeteiligten Dritten zu erwecken.” Damit berge “die angezeigte Versammlung das unkalkulierbare Risiko einer größeren Ansammlung von Menschen, die zudem mangels entsprechender Kenntnis die vom Antragsteller vorgesehenen Schutzmaßnahmen nicht einhalten.”

(2) OVG Bautzen vom 7. April

Auch das Oberverwaltungsgericht Bautzen hatte am 7. April keine rechtlichen Bedenken gegen die Corona-Verordnung vom 31. März. Denn die “massiven Eingriffe” seien

“zur Erreichung eines legitimen Ziels, nämlich der befristeten Verhinderung weiterer Infektionsfälle, mittelbar der Gewährleistung einer möglichst umfassenden medizinischen Versorgung von Personen, die an COVID-19 erkrankt sind, geeignet und wegen ihrer zeitlichen Begrenzung auf wenige Wochen bis zum 20. April 2020 noch verhältnismäßig. Ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot” sei “jedenfalls derzeit noch nicht festzustellen”.

Stattdessen legte das Gericht – ohne jeden Anhalt in der Verordnung! – das vieldiskutierte “Wohnumfeld” auf einen Radius von 15 km fest.

(3) Sächsische Verfassungsgerichtshof vom 17. April

Selbst der Sächsische Verfassungsgerichtshof meinte am 17. April im Wege einer sehr schlanken Folgenabwägung, dass die “gewichtigen Interessen” (wie die Versammlungsfreiheit) “nach dem hier anzulegenden strengen Maßstab nicht derart schwerwiegend” seien,

“dass es – angesichts der von vornherein begrenzten und nun nur noch kurzen Geltungsdauer der Verordnung – unzumutbar erschiene, sie einstweilen zurückzustellen, um einen möglichst weitgehenden Gesundheits- und Lebensschutz zu ermöglichen, zu dem der Staat aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 SächsVerf prinzipiell auch verpflichtet ist.”

(4) Fragen an das Selbstverständnis der Gerichte

Die sächsischen Gerichte haben sich durchaus grobschlächtig ihrer Verantwortung entzogen. Will man die eigentlichen Rechtsfragen umschiffen und trotzdem zur gewünschten Entscheidung kommen, bietet die Flucht in die Folgenabwägung ein bequemes Schlupfloch. Offensichtlich beruhigen die Richterinnen und Richter ihr Gewissen mit der Erwägung, dass die Eingriffe nur kurz andauerten, obwohl absehbarerweise mittlerweile schon die dritte Verlängerung beschlossen wurde. Menschlich kann man Verständnis für die Urteilenden aufbringen, die am Beginn einer Pandemie eine Lockerung verfügen sollen. Aber Richter sind an Recht und Gesetz gebunden – und insbesondere an die Verfassung. Ihre persönliche und sachliche Unabhängigkeit von der Regierung dient dem Schutz unserer Grundrechte. Unabhängige Gerichte sollen im Rechtsstaat das zentrale Gegengewicht gegen exekutive Allmacht sein. Gerade in der Krise müssen sie das Vertrauen in den Rechtsstaat stärken! Richter*innen, die sich nicht trauen, Maßnahmen des Staates in den Arm zu fallen, verfehlen ihre Pflicht.

2. Dresdner Meinungsselektion

Lassen Gerichte der Exekutive freie Hand, dann werden Oberbürgermeister und Landräte den Handlungsspielraum nach ihren Prioritäten ausfüllen. Die Ordnungsbehörde Dresden und die sächsische Polizei hatte Ende März und Anfang April jede demonstrative Meinungsäußerung unterbunden, und zwar auch dann, wenn überhaupt keine Menschen anwesend waren. So hängten sie nach wenigen Minuten ein Banner von Dynamo-Fans an der Brühlschen Terasse ab. Am Ostersamstag haben sie Transparente zum Gedenken an den rassistischen Mord in Celle entfernt. Am Mittwoch nach Ostern haben sie sogar Pappfiguren entfernt, die für eine Evakuierung der Lager auf Lesvos warben. Dem Infektionsschutz diente dies sicherlich nicht.

Dagegen schritten Ordnungsamt und Polizei bei der “Aktion” der Dehoga am 17. April nicht ein. Der Hotel- und Gastronomieverband protestierte mit “hunderten Stühlen” auf dem Dresdner Neumarkt gegen die Corona-Schließungen. Dem Vernehmen nach kam es bei dieser “Aktion”, von der der Veranstalter einfach behauptete, sie sei keine Versammlung, zu deutlichen Ansammlungen von Menschen. Die Stadtverwaltung hat die Versammlung nach den Kriterien der vermuteten Mehrheitsmeinung und der gesellschaftlichen Erwünschtheit der Meinungsbekundung einfach laufen lassen. Wenn die zweitstärkste Wirtschaftsbranche Dresdens in Zeiten von “Lockerungsdiskussionsorgien” protestiert, trifft das eben auf breitere Zustimmung als an die Untätigkeit der EU im Fall Moria zu erinnern, die die Menschen dort schutzlos dem Corona-Virus überlässt.

II. Die Korrektur des Bundesverfassungsgerichts

(1) VG Schwerin vom 11. April

Dem VG Schwerin gebührt die Ehre, der Versammlungsfreiheit erstmals in der Corona-Krise wieder Geltung verschafft zu haben. Am 11. April hat es eine Versammlung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zugelassen, weil es sich “nicht davon überzeugen” konnte, dass der “Schutz nur über das vollständige Versammlungsverbot gewährleistet werden könnte”. Dabei bewertete das Gericht, dass in Mecklenburg-Vorpommern die Möglichkeit einer Ausnahmegenehmigung geregelt war. Das Gericht hält sogar eine Genehmigungspflicht für möglich, wenn die “Zusammenkünfte infektiologisch verantwortet werden können”: dann “dürfte eine Reduktion des Ermessens der Versammlungsbehörde auf eine Ermöglichung der Versammlung anzunehmen sein.”

(2) BVerfG vom 15. April: Fall Gießen

Das BVerfG hat mit seinen Kammerbeschlüssen vom 15. und 17. April entschieden, dass ein pauschales Versammlungsverbot ohne infektiologische Bewertung des konkreten Einzelfalls nicht mit Art. 8 GG vereinbar ist. Die Instanzgerichte hatten die Versammlungsverbote für rechtmäßig gehalten. Im ersten Fall hatte die Stadt Gießen eine Versammlung verboten, weil sich “eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung” daraus “ergebe, dass die Versammlungen von der Mehrheit der Stadtbevölkerung, die sich zu einem ganz überwiegenden Teil an die Corona-Verordnungen des Landes halte, als Provokation empfunden würden” – eine erschreckende Verkennung der konstitutiven Bedeutung der Versammlungsfreiheit für die Demokratie!

Karlsruhe hält dagegen: Die Versammlungsbehörde habe “verkannt”, dass die Verbotsverordnung “für die Ausübung des durch § 15 Abs. 1 VersG eingeräumten Ermessens gerade auch zur Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit einen Entscheidungsspielraum lässt.” Sie habe “nicht unter hinreichender Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls entschieden”. Zudem mache sie “überwiegend Bedenken geltend, die jeder Versammlung entgegengehalten werden müssten und lässt auch damit die zur Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 GG bestehenden Spielräume des § 1 der Verordnung leerlaufen.”

(3) BVerfG vom 17. April: Fall Stuttgart

Im zweiten Fall hatte sich die Stadt Stuttgart auf den autoritären Standpunkt gestellt, “dass aktuell über Versammlungen nicht entschieden werde, weil diese verboten seien.” Zudem weigerte sie sich, einen rechtsmittelfähigen Bescheid zu erlassen! Das BVerfG zitiert daher zunächst seine ständige Rechtsprechung, die in den letzten vier Wochen so offensichtlich missachtet wurde:

“Art. 8 Abs. 1 GG schützt die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammen zu kommen. Als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe ist die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend.”

Und: “Eingriffe in die Versammlungsfreiheit sind nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zulässig.”

Das Verfassungsgericht lässt ausdrücklich offen, “ob es von Art. 8 GG gedeckt ist, die Ausübung der Versammlungsfreiheit durch Rechtsverordnung einem grundsätzlichen Verbot mit Erlaubnisvorbehalt zu unterwerfen und die Erteilung einer solchen Erlaubnis in das Ermessen der Verwaltung zu stellen.”

Die Karlsruher Richter*innen behalten sich also vor, Versammlungsverbote in Rechtsverordnungen als verfassungswidrig zu kippen. In der Tat erfordert der aus dem Demokratieprinzip abzuleitende Grundsatz, dass alle wesentlichen, insbesondere grundrechtseingreifenden Maßnahmen, von dem durch freie, gleiche und geheime Wahlen zusammengesetzte Parlament selbst zu entscheiden sind. Erst recht können Allgemeinverfügungen wie in Sachsen bis zum 19.4. üblich keine Eingriffe rechtfertigen. Jedenfalls erforderlich ist

“eine hinreichende Berücksichtigung der konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls. Lediglich pauschale Erwägungen, die jeder Versammlung entgegengehalten werden könnten, würden dem durch den Normgeber eröffneten Entscheidungsspielraum, von dem die Verwaltung unter Berücksichtigung des Individualgrundrechts aus Art. 8 GG Gebrauch zu machen hat, nicht gerecht.”

Die Versammlungsbehörde hat auch die Pflicht, selbst Vorschläge für eine Minimierung der Infektionsrisiken zu entwickeln:

“Zudem hat die Behörde keinerlei eigene Überlegungen zur weiteren Minimierung von Infektionsrisiken angestellt. Die Verantwortung dafür trifft nicht allein den Antragsteller. Vor dem Erlass einer Beschränkung der Versammlungsfreiheit muss sich die zuständige Behörde zunächst um eine kooperative, einvernehmliche Lösung mit dem Versammlungsveranstalter bemühen.”

III. Anwendungsbereich und Voraussetzungen der neuen Ausnahmegenehmigung

1. Ausnahmegenehmigungen für Ansammlungen?

(1) “Veranstaltungen”, “Glaubensgemeinschaften”, “Ansammlungen” und “Vereine”

Die Möglichkeit einer Ausnahmegenehmigung ist nach § 3 Abs. 3 “insbesondere bei Versammlungen” eröffnet. Ausnahmegenehmigungen sollen also nicht auf Versammlungen beschränkt werden. Der systematische Zusammenhang zwischen Abs. 3 und Abs. 1 zeigt an, dass offenbar für alle in Abs.1 genannten “Veranstaltungen” Ausnahmegenehmigungen erteilt werden können sollen, also auch für “sonstige Ansammlungen”, “Zusammenkünfte” von “Glaubensgemeinschaften” sowie in “Vereinen”. Ob dieser weite Anwendungsbereich wirklich so gewollt war, ist zu bezweifeln. Leider begründet der Verordnungsgeber seine Entscheidung nicht, auch die offiziellen FAQ schweigen.

(2) Unterschiedliche Gewichtigkeit der Grundrechte

Mit “Veranstaltungen” sind wohl alle öffentlichen Darbietungen eines Veranstalters gemeint, die auf die Aufmerksamkeit der allgemeinen Öffentlichkeit zielen. Mit “Ansammlungen” ist dagegen das unspezifische Zusammenstehen einiger Menschen ohne gemeinsame Zwecke zu verstehen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht betrifft die Ausnahmegenehmigung daher höchst unterschiedlich gewichtige Verhaltensweisen. Für die Versammlungs- und Religionsfreiheit war die Einführung einer Ausnahmegenehmigung geboten, wie spätestens die Kammerbeschlüsse des BVerfG zeigen. Dies gilt sicherlich nicht für “Ansammlungen” oder “Veranstaltungen”. Dem Wortlaut ist leider zwingend zu entnehmen, dass Sachsen für jede “Veranstaltung” oder “Ansammlung” eine Ausnahmegenehmigung für möglich hält. Dabei können “Ansammlungen” als rein tatsächliches Phänomen gar nicht genehmigt werden! Auch für “Veranstaltungen” muss jetzt eine Einzelfallentscheidung aus infektionsschutzrechtlicher Sicht getroffen werden. Es liegt auf der Hand, dass damit ohne verfassungsrechtliche Veranlassung die Ansteckungsgefahren ganz erheblich steigen: Eine klare Fehlentscheidung der Staatsregierung, die bald korrigiert werden sollte!

2. Kriterien der Ausnahmegenehmigung

(1) Antrag und “Einzelfall”

Eine Ausnahmegenehmigung nach § 3 Abs. 3 setzt einen Antrag bei den zuständigen Behörden voraus, den Landkreisen und kreisfreien Städten, denen mit dem Wörtchen “können” Entscheidungs- und Ausgestaltungsermessen eröffnet werden. Weitere Voraussetzungen sollen ein “Einzelfall” sein sowie die infektionsschutzrechtliche “Vertretbarkeit” der Ausnahmegenehmigung. Mit der Antragspflicht weicht die Verordnung von der Antragsfreiheit bei Versammlungen ab. Denn Versammlungen sind nur anzuzeigen. Die Anzeigepflicht besteht zudem nicht bei Spontanversammlungen. Die Voraussetzung des “Einzelfalls” ist inhaltsleer, denn eine Ausnahme von der Regel ist immer ein Einzelfall.

(2) Auftrag zur pflichtgemäßen Ermessensausübung

“Ermessen” ist kein Freibrief für die Vorlieben der Verwaltung, sondern Auftrag zur pflichtgemäßen Entscheidung. Die Versammlungsbehörde darf sich nicht wie die Stadt Stuttgart weigern, überhaupt mit dem Versammlungsanmelder über Infektionsschutzmaßnahmen zu sprechen.Insbesondere ist das hohe Gewicht der Versammlungs- und Religionsfreiheit sowie das geminderte Gewicht der Vereinigungs- und Handlungsfreiheit zu berücksichtigen. Das VG Schwerin hat in seinem Beschluss vom 11. April erwogen, ob sich nicht aus Art. 8 GG eine Ermessensreduzierung auf Null ergibt, so dass jede Versammlung, die infektionsmäßige Schutzvorkehrungen trifft, zwingend zu genehmigen sei. Jedenfalls müssen für Versammlungen oder Gottesdienste Ausnahmegenehmigungen eher erteilt werden als für Veranstaltungen insbesondere kommerzieller Art. Es handelt sich aufgrund der Grundrechtsgewichtigkeit um unterschiedliche Sachverhalte, die nicht gleich behandelt werden dürfen. So ist zu hoffen, dass die Versammlungsbehörden nicht auf die Idee kommen, kommerzielle Verkaufsveranstaltungen auf dem Marktplatz zu genehmigen, weil sie jetzt auch für Versammlungen Ausnahmegenehmigungen erteilen müssen.

3. Infektionschutzrechtliche Vertretbarkeit

(1) Regelungen anderer Bundesländer

Grundrechtssensiblere Landesregierungen als die sächsische hatten schon zu Beginn der Corona-Krise erkannt, dass die Versammlungsfreiheit auch in Zeiten der Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote nicht einfach verboten werden kann. Sie beschreiben in ihren Verordnungen Kriterien für die Zulassung von Versammlungen, etwa einen “wichtigen Grund” (§ 3 Abs. 6 Baden-Württemberg) oder “im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar (§ 1 Abs. 1 Satz 3 Bayern) oder unter freiem Himmel von bis zu 20 Teilnehmenden in besonders gelagerten Einzelfällensofern dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist ( § 1 Abs. 7 Berlin) oder “Einhaltung der für den Schutz der Bevölkerung vor Infektionen erforderlichen Maßnahmen (insbesondere Mindestabstände) (§ 11 Abs.3  NRW), Mindestabstand und Anwesenheitsliste (§ 1 Abs. 4 und 5 Sachsen-Anhalt). Dabei ist die baden-württembergische Regelung sicher unzulässig: Der Staat hat kein Recht, die Wichtigkeit” einer Meinungsbekundung zu beurteilen und seine Genehmigung davon abhängig zu machen.

(2) Ausgestaltungsermessen

Bei der Prüfung der infektionsschutzrechtlichen Vertretbarkeit geht es um die Frage, ob die Gefahr einer Verbreitung des Virus unter den Teilnehmern und Passanten aufgrund einer hohen Anzahl von Menschen durch geeignete Schutzmaßnahmen ausgeschlossen werden kann. Dieser Prüfungspflicht darf sich die Versammlungsbehörde nicht entziehen. Sie hat dem Anmelder eigene Vorschläge zu machen. Können geeignete Schutzmaßnahmen ergriffen werden, dürfte kein Ermessen zur Versagung einer Ausnahmegenehmigung mehr bestehen. Das behördliche Ermessen wäre dann auf ein konkretes Ausgestaltungsermessen beschränkt.

(3) Einzelne Kriterien

Geeignete infektionsschutzrechtliche Kriterien sind die Beschränkung der Teilnehmerzahl und der Versammlungsdauer, die Untersuchung und Zulassung nur von nicht infizierten Teilnehmern, Bereithaltung von Desinfektionsmitteln oder die Einhaltung des Mindestabstands. Am ersten Geltungstag der Verordnung haben die Versammlungsbehörden Chemnitz und Dresden in Anlehnung an die höchstzulässige Zahl bei Gottesdiensten in § 3 Abs. 2 Nr. 3 eine Beschränkung auf 15 Teilnehmer angeordnet. Die Verordnung Berlin sieht eine Teilnehmerzahl von 20 vor.

(4) Registrierung der Versammlungsteilnehmer?

Umstritten ist die Eintragung der Versammlungsteilnehmer in eine Liste mit Namen, Anschrift und Ausweisnummer. Eigentlich ist die Identifizierung von Teilnehmern einer Versammlung ein schwerwiegender und unzulässiger Eingriff in die Versammlungsfreiheit. Denn wer damit rechnen muss, dass seine Demoteilnahme staatlich registriert wird, wird vom Gebrauch seines Grundrechts abgeschreckt. Es besteht aber keine allgemeine Pflicht, dem Staat seinen Aufenthaltsort preis zu geben und speichern zu lassen. Denn so erhielten die Behörden ein Bewegungsbild, dass das BVerfG ausdrücklich verboten hat.

Immerhin hat Sachsen-Anhalt die Registrierung in seiner Corona-Verordnung und auch das VG Schwerin ausdrücklich vorgeschrieben. Allerdings ist schon zu fragen, warum für die demokratiebedeutsame Versammlungsfreiheit eine Registrierungspflicht gelten soll, nicht aber für Kunden beim Einkauf. Hier könnte eine Fehlgewichtung des Verordnungsgebers vorliegen.

Jedenfalls ist für die Art und Weise der Rückverfolgung, die an sich durchaus geeignet und angemessen ist, die grundrechtsfreundlichste Variante zu wählen. So reicht es aus, wenn der Versammlungsleiter verpflichtet wird, die Personalien der Teilnehmer aufzunehmen und vier Wochen zu verwahren. Wird währenddessen durch Meldung eines Teilnehmers bei seinem Hausarzt oder im Krankenhaus bekannt, dass er an der Demonstration teilgenommen hat, könnten die Behörden die Herausgabe der Liste verlangen. In diesem Fall lägen konkrete tatsächliche Anhaltspunkte für eine mögliche Ansteckung vor.

(5) Gegendemonstrationen?

Wird für eine Versammlung eine Ausnahmegenehmigung erteilt, so müssen auch Gegendemonstrationen mit Protesten in Sicht- und Hörweite zulässig sein. Es ist zwar zuzugeben, dass so die Anzahl der Personen an einem Ort weiter steigt. Aber die Ausnahmelage der Corona-Krise kann der genehmigten Versammlung kein örtlich-zeitliches Exklusivrecht verschaffen und so das Recht auf Gegendemonstration aufheben. Wie sonst auch ist praktische Konkordanz zwischen den Grundrechten beider Versammlungen zu suchen. Natürlich muss auch die Gegenversammlung die infektionsschutzrechtlichen Vorkehrungen einhalten. An der Gegendemonstration dürften nicht mehr Personen teilnehmen dürfen, wie bei der Anlassversammlung. Sie darf an einen Ort verwiesen werden, der beim Zu- und Abgang der Anlassversammlung nicht zu Menschenansammlungen führt. Völlig unzulässig ist es natürlich, die Gegendemonstranten*innen mit Bußgeldbescheiden zu überziehen, wie offenbar am 20. April in Dresden geschehen.

IV. Fazit

Die Corona-Krise ist auch eine offensichtliche Krise des Grundrechtsbewusstseins, des Rechtsstaats und der Schutzaufgabe der Gerichte. Die Staatsregierung hat mit dem Totalverbot von Versammlungen ohne Ausnahmemöglichkeit zunächst massiv in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit eingegriffen und jetzt den Anwendungsbereich der Ausnahmezulassungen aus infektionsschutzrechtlicher Sicht viel zu weit geöffnet. Unter diesen Umständen muss auch die Vollzugspraxis der Versammlungs- und Polizeibehörden schlingern.

Auch die Leistungen der sächsischen Gerichte enttäuschen und beschädigen das Vertrauen in den Rechtsstaat, das gerade in Zeiten sehr grundsätzlicher Verunsicherungen so wichtig wäre! Soweit Gerichte faktisch keinen Rechtsschutz gewähren, setzen sich politische Augenblicksprioritäten der Regierung und Verwaltung durch, die eben nicht die der Grundrechte sind. Diese Krisen zeigen wieder einmal, wie unverzichtbar das BVerfG ist, um staatliche Willkür zurückzuschneiden. Nicht auszudenken, wenn es die Karlsruher Richter*innen nicht gäbe! Bei den Korrekturen im Sinne der Versammlungsfreiheit dürfte das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht sein.

Die Corona-Krise verlangt Versammlungsanmeldern und Behörden eine dichte Kooperation, schwierige Abwägungen sowie eine außerordentliche Disziplin ab. Sie zwängen das “Stück ungebändigter Demokratie”, wie das BVerfG das Demonstrationsrecht einmal genannt hat, in eine seuchenrechtliche Zwangsjacke, das nur noch eine Erinnerung an echte Versammlungsfreiheit übrig lässt.

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