#le0711: Gerichtsentscheidungen, Staatsversagen, Sachsenkenia

Statement bei der online-Anhörung der Fraktion Die Linke im Sächsischen Landtag am 20.11.2020

Guten Abend,

Ich möchte zunächst etwas zu den versammlungsrechtlichen Fragen am 7. November sagen, bevor ich mich dem Umgang der Koalition mit diesem Staatsversagen zuwende und mich frage, was das für die Koalition bedeutet.

(1) Wie ist die Rechtslage bei extrem rechten Versammlungen? – Für alle Meinungen, die nicht verboten sind, darf auch demonstriert werden. Dies gilt auch für unwissenschaftliche, falsche, absurde oder sogar nationalsozialistische Meinungen. Das bedeutet für Querdenker-Demos: Selbst für verschwörungstheoretische Meinungen, deren Befolgung offensichtlich viele Menschen das Leben kostet, darf in einer Pandemie demonstriert werden!

Wie sind die Gerichtsentscheidungen zu beurteilen? – Zunächst: die Gerichte haben die Sach- und Rechtslage im Moment ihrer Entscheidung anzuwenden. Eine Entscheidung wird also nicht deshalb rechtswidrig, weil die Versammlung tatsächlich später anders verlaufen ist.

Die Stadt Leipzig hatte die Kundgebung auf dem Augustusplatz auf den Parkplatz der Neuen Messe verlegt, andere Anmeldungen im Stadtgebiet aus dem Querdenker-Milieu aber bestätigt. Entscheidungsmaßstab des Verwaltungsgerichts war, ob “konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte” vorliegen, dass bei einer Versammlung auf dem Augustusplatz eine weitere Verbreitung der Corona-Seuche zu erwarten wäre. Das Gericht bejahte dies, weil es von einer polizeilichen Prognose von bis zu 50.000 Teilnehmern ausging. Dafür ist der Augustusplatz offensichtlich zu klein.

Das Oberverwaltungsgericht hat diese Entscheidung bekanntlich aufgehoben und die Versammlung zugelassen, wenn auch auf 16.000 Teilnehmer*innen begrenzt. Denn: In der “letzten polizeilichen Gefahrenprognose” sei – Zitat

lediglich die aktuelle Prognose des Antragstellers mit geschätzt 16.000 Teilnehmern, nicht aber eine höhere Anzahl aufgrund der bundesweiten Mobilisierung, als “durchaus realistisch” eingeschätztworden.

Achtung: Dies klingt so, als ob die Polizei nur die Angaben des Veranstalters wiederholt, aber selbst überhaupt keine eigene Einschätzung angestellt hätte!

Da Querdenken angekündigt habe, keine Veranstaltung an der Neuen Messe durchzuführen, sei auch die Annahme des VG “zweifelhaft”, mit der Verlegung werde eine unzulässige Verdichtung in der Innenstadt vermieden.

Und: Sollten Teilnehmerbeschränkung oder Abstandsregeln nicht eingehalten werden, könne dem durch Erweiterung der Versammlungsflächen oder Untersagung begegnet werden!

(2) Was ist daran zu kritisieren? – Das OVG schiebt die Argumente der Versammlungsbehörde beiseite und stützt sich alleine auf die Aussage der Polizei von nur 16.000 Teilnehmern. Und dies, obwohl einiges dafür spricht, dass die Polizei keine eigene Prognose angestellt hatte.

Das OVG wendet die Absicht der Querdenker, keine Veranstaltung an der Neuen Messe durchzuführen, zum Argument für den Augustusplatz – nach dem Motto: Die kommen doch ohnehin dorthin!

Schließlich fordert das OVG die Polizei geradezu zum Nicht-Einschreiten auf, wenn es die Erweiterung der Versammlungsfläche am Augustusplatz für möglich hält, wenn doch mehr als 16.000 Personen kommen sollten.

Ich meine: Auch unter Beachtung der offenbar falschen polizeilichen Gefahrenprognose hätte das OVG die Entscheidung des VG nicht aufheben müssen!

(3) Warum muss man am 7.11. von “Staatsversagen” sprechen? – Das Zusammenspiel von Polizei und OVG hat dazu geführt, dass die Polizei auf die Durchsetzung der versammlungsrechtlichen Auflagen und die Durchsetzung des Infektionsschutzrechts verzichtet hat. Dies gilt sogar für den Schutz gegen gewalttätige Querdenken-Teilnehmer.

Gegner der Anti-Corona-Maßnahmen und Nazis fühlen sich ermutigt, gesetzestreue Bürger*innen werden entmutigt. – Gewerbetreibende und Kulturschaffende, die um ihre Existenz kämpfen, können sich zu Recht ungerecht behandelt fühlen.

(4) Und nun zum Umgang der Koalition mit diesem Staatsversagen – Innenminister Wöller hat das Staatsversagen mit den Worten verteidigt, man setze “keine Wasserwerfer gegen Senioren und Kinder” ein. Im übrigen sei das OVG schuld.

Sein Statement am 8.11. wirkt wie eine infantile Trotzreaktion – nach dem Motto: “Die anderen sind schuld!” Der Innenminister erweist sich nicht nur als unfähig, sondern auch als unbelehrbar.

Und die Grünen in der Regierung? – Vorbemerkung: ich habe keinerlei Zugang zu den führenden Kreisen in Fraktion und Partei. Meine Bewertungen beruhen allein auf öffentlichen Quellen, Erfahrungen zur Machtmechanik – und die eine oder andere Stimmungslage an der Basis.

Führende Leute der Grünen haben noch am Abend des 7. November das Vorgehen der Polizei kritisiert – offenbar ein abgestimmtes Vorgehen. Allerdings hat der stellvertretende Ministerpräsident Günther die geweckten Erwartungen enttäuscht, als er die Affäre wohl schon auf der Kabinettssitzung am folgenden Dienstag abmoderierte.

Andererseits: Die Innenpolitiker von Grünen und SPD, Lippmann und Pallas, waren nach der Sitzung des Innenausschusses von der Haltung des Innenministers und ihres Koalitionspartners sichtlich verärgert

(5) Was sagt uns das über den Zustand der Koalition? – Offenbar gab es für den Innenausschuss keine funktionierenden Absprachen innerhalb der Koalition. Die CDU nimmt also keine Rücksicht auf ihre Koalitionspartner. Das zeigt: Grüne und SPD haben real null Einfluss auf Innenminister und Polizei!

Es ist bezeichnend: Zwar fordert der Grüne Lippmann in seinem Papier vom 19.11. viel Richtiges zur Aufklärung der Vorgänge. Aber sorgsam klammert er die Fragen nach personellen Konsequenzen oder gar Auswirkungen auf den Bestand der Koalition aus. Diese Selbstbeschränkungen laden die CDU geradezu zum Aussitzen ein!

(6) Was bedeutet das für die Zukunft der Koalition? – Sachsenkenia geht schon in den Zustand der Zersetzung über – nach noch nicht einmal einem Jahr!

Man muss sich erinnern, was die eigentliche Geschäftsgrundlage dieser Koalition war und ist: nämlich die profaschistische AfD von der Macht fernzuhalten.

Wenn aber die uneinsichtige „Sächsische Union“ im Staatspartei-Modus, real aber mit fortgesetztem Staatsversagen, faktisch die politische Reichweite der AfD stärkt, wird diese Geschäftsgrundlage immer stärker erodieren.

Je länger die CDU nicht einlenkt, desto schwerer wird es den Grünen fallen, die eigene Glaubwürdigkeit zu bewahren und zugleich in der Koalition zu bleiben!

Leider ist nicht erkennbar, dass sich die Partei diesen Fragen stellt.

Zwar gefällt der “Basis” die appeasement-Politik der Fraktion nicht. Wirksamer oder gar offener Widerstand ist aber leider vorerst nicht zu erwarten. Derzeit trägt noch die interne Sprachregelung, man halte durch eigene Koalitionstreue die CDU ab, mit der AfD zu stimmen.

Aber auch in diesem Argument wird klar: Diese gemeinsame Geschäftsgrundlage einer Koalition gegen die AfD gibt es nicht.

So liegt die Bedeutung des 7. November für die Koalition darin, dass der geringe Einfluss der Grüne auch den Gutgläubigsten klar werden muss.

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