Dresden in der zweiten Welle: Für einen Corona-Ausschuss des Stadtrates

I. Corona-Lage

1. Tote, Infizierte, Inzidenzen

Sachsen ist mittlerweile einsame Spitze in Deutschland. Hierzulande liegen 6 der 10 Landkreise mit der höchsten Inzidenz. Knapp 22% aller Menschen, die am Wochenende starben, wohnten in Sachsen. Die Landkreise Sächsische Schweiz-Osterzgebirge und Bautzen liegen bei der Inzidenz über 500, Meissen und Zwickau um 450, Erzgebirge um 400, Mittel- und Nordsachsen um 300. Die sächsische „Lehrerinzidenz“ liegt bei über 1000!

Bisher sind in Dresden 103 Menschen an Corona gestorben. Das Krankenhaus Friedrichstadt hatte die Aufnahme von Coronapatienten bereits zeitweise ausgesetzt. Von den 8300 Menschen, die angesteckt wurden, sind aktuell etwa 2900 aktiv. Das Gesundheitsamt ist seit Wochen nicht mehr in der Lage, Neuinfektionen rechtzeitig zu erfassen. Regelmäßig werden erhebliche Zahlen nachgemeldet, ja bei der Berechnung der Inzidenzen fallen sogar viele Infektionen ganz unter den Tisch! Infizierte werden nicht rechtzeitig informiert und Einrichtungen zu spät geschlossen. 72 Schulen, 32 Kitas und 24 Pflegeeinrichtungen sind derzeit betroffen. Etwa 4100 Personen sollten deshalb in Quarantäne sein.

Nach den aufsummierten Infektionszahlen liegt Dresden seit etwa zwei Wochen bei 200 Neuinfektionen je Tag / 100.000 Einwohner und hätte deshalb längst strengere Maßnahmen ergreifen müssen!

2. Scheitern im Lockdown light

Der sogenannte “Lockdown light” mit der Schließung von Freizeiteinrichtungen im November sollte ein fast “normales” Weihnachten und Sylvester ermöglichen, so wurde es im Oktober versprochen. Leider ist er gescheitert: In Deutschland verharren die Neuinfektionen auf hohem Plateau, während sie in Sachsen weiter steigen. Weil nach einem Sommer der Sorglosigkeit, erfüllt von “Lockerungsorgiendebatten” (A. Merkel), der Schaden in der Wirtschaft und weitere Staatsschulden unbedingt gering gehalten werden sollten, blieben Schulen und Kitas offen – obwohl sie eine der entscheidenden Treiber der Pandemie sind. Die starke Verbreitung des Virus in der Bevölkerung schlägt dann auf die Alten- und Pflegeheime durch. Wie die Inuit scheint unsere vermeintlich zivilisierte Gesellschaft die Alten, die nicht mehr mit können, zum Sterben im Eis zurück zu lassen.

3. Schwurbler-Akzeptanz, Durchsetzungsverzicht und Staatsversagen

Sachsen ist das Land, in dem asoziales Verhalten der Pandemie-Leugner durchaus akzeptiert wird. Man diskutiert lieber die Sinnhaftigkeit dieser oder jener Schutzmaßnahme, als die Zweifel und Nöte der Eltern, die ihre Kinder in die Schule schicken müssen. Oder gar die Schicksale der Menschen, die einsam in den Heimen sterben. Jenaer Wissenschaftler haben jetzt eine Korrelation zwischen der Wahl der AfD und einer hohen Neuansteckungsrate errechnet. Sachsen ist auch das Land, in dem völkisch-esoterische Schwurbelei jedenfalls auf staatliche Duldsamkeit, wenn nicht gar Ermutigung trifft. Der Staat verzichtet bei den Versammlungen der Covid-Leugner und Nazihools auf die Durchsetzung der Infektionsschutzregeln, so geschehen am 31.10. in Dresden und am 7.11. in Leipzig. Regierung und Polizei machten so schon zu Beginn des “Lockdowns” klar, dass man ihre Regeln und die Pandemie nicht ernst nehmen muss.

II. Demokratische Standards in der dreifachen Krise

Wir erleben eine dreifache Krise: Eine Gesundheitskrise, in der die Infektionen durch die Decke gehen und immer mehr Menschen sterben, weiter eine Krise des wechselseitigen Vertrauens in der Gesellschaft und schließlich eine Krise des Vertrauens in die staatlichen Institutionen.

1. Solidarität und ihre Verächter

Zwar haben viele mit ihren solidarischen Initiativen die Innovationskraft der Gesellschaft in der Pandemie bewiesen. Auch unterstützen die allermeisten die Schutzmaßnahmen aus Überzeugung und Empathie mit den Schwächeren. Aber andererseits scheissen esoterisch angehauchte Corona-Leugner, die sich selbst als als geistige Elite (“Querdenker”) imaginieren, im Namen eines konsumorientierten, narzisstischen Egoismus auf Solidarität und Empathie. Völkisch Verblendete und astreine Nazis wittern und nutzen die Chance, den demokratischen Staat vorzuführen. Die Pandemie erleuchtet grell die Risse, die die Gesellschaft schon vorher spalteten. Manche kündigen bereits im Geiste die Vorstellung der einen gemeinsamen Gesellschaft auf. Und die sich radikalisierenden Mischszenen der Solidaritätsverweigerer und Faschisten baggern kräftig weiter.

2. Die Schwäche exekutiver Problembearbeitung

Die entscheidende Frage lautet: Können die Pandemie- und Gesellschaftskrise mit den Methoden des demokratischen Rechtsstaats bewältigt werden, die den Menschen- und Grundrechten aller verpflichtet bleibt? Dabei geht es erst in zweiter Linie um die Regierungen, Verwaltungen oder Gerichte, sondern zuerst um den Bundestag, die Landtage und die Gemeinderäte.

Bisher versuchten die Regierungen der Gesundheitskrise fast ohne die Parlamente zu beizukommen. Die weitgehende Ausschaltung der gewählten Vertreter*innen des Volkes haben geordnete öffentliche Aushandlungsverfahren mit Debatten, Widersprüchen und neuen Ideen abgeschnitten: keine Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger, keine Mobilisierung gesellschaftlichen Sachverstands, keine zusätzliche Legitimation von Entscheidungen durch Verfahren. Aber gerade jetzt, in diesen ungeahnten Herausforderungen, in denen es um die neue Aushandlung und Vereinbarung von Regeln geht, müssten die Stärken demokratischer Entscheidungsfindung mobilisiert werden

Stattdessen ist die Republik vierwochenweise auf die Konferenzen der Bundeskanzlerin mit den “Länder-Chefs” (gemeint sind die Ministerpräsident*innen) fixiert. Aber die überwiegend exekutive Verwaltung der Krise ist keine Stärke, sondern Schwäche. Zudem liefert sie einfältigen Gemütern Ansatzpunkte für ihre Diktatur-Fantasien.

3. Der neue § 28a Infektionsschutzgesetz

In der Tat verletzte es den Parlamentsvorbehalt und das Demokratieprinzip, die flächendeckenden und einschneidenden Grundrechtseingriffe auf die hergebrachte Generalklausel des Infektionsschutzgesetzes zu stützen. Und leider trauten sich die Gerichte überwiegend nicht, der Exekutive in den Arm zu fallen – obwohl sie genau zu diesem Zweck Unabhängigkeit genießen. Endlich, nach 7 Monaten Pandemie, hat sich der Bundestag am 18. November 2020 aufgerafft, Eingriffe in einem neuen § 28a IfSchG genauer gesetzlich zu regeln. Je nach den regionalen Inzidenz-Werten werden für bestimmte Corona-Schutzmaßnahmen Eingriffsschwellen und Verhältnismäßigkeitsstufen formuliert.

III. Für eine Kooperation zwischen Stadtrat und Oberbürgermeister

1. Die Doppelrolle des Oberbürgermeisters

Ja, die Aufgaben nach dem Infektionsschutzgesetz sind staatliche Aufgaben und keine Selbstverwaltungsaufgaben der Stadt Dresden! Der Oberbürgermeister handelt als untere Infektionssschutzbehörde und den Weisungen des sächsischen Sozialministeriums unterworfen. Er handelt als staatliche Behörde Sachsens und nicht als gewähltes Selbstverwaltungsorgan der Kommune Dresden. Aus seiner Doppelrolle folgt aber auch seine zweifache Verpflichtung auf die staatliche wie die kommunale Ebene. In beiden Rollen ist er den Dresdner Wählerinnen und Wählern verpflichtet.

2. Spielräume für den Stadtrat

Aus der Perspektive der Wählerinnen und Wähler kommt das „Hauptorgan der Gemeinde“, der vom Volk gewählte Stadtrat, ins Spiel. Der Ausschluss von Entscheidungsrechten bei staatlichen Aufgaben dient jedenfalls nicht der Selbstherrlichkeit des OB, sondern der Beachtung des im Infektionsschutzgesetz niedergelegten Willens des gewählten Bundestags. Dort aber, wo das Infektionsschutzgesetz der unteren Verwaltungsbehörde eigene Handlungsspielräume zuweist, überzeugt es nicht, den Stadtrat von jeder Befassung auszuschließen.

Der Oberbürgermeister ist jedenfalls frei, sich innerhalb gesetzlich zugewiesener Handlungsspielräume beraten zu lassen, und zwar gerade auch von der gewählten Vertretung der Dresdener Bürgerinnen und Bürger. Ein Beharren des Oberbürgermeisters auf einsame Entscheidungen diente nur einer hohlen Feldherrenpose ohne demokratischen Mehrwert.

Gemäß § 8 Abs.1 Satz 1 der sächsischen Corona-Schutzverordnung vom 27. November 2020 “kann” die Stadt Dresden “abhängig von der aktuellen regionalen Infektionslage verschärfende Maßnahmen ergreifen, die der Eindämmung des Infektionsgeschehens dienen.” § 8 Abs.5, der die Verbindlichkeit der RKI-Zahlen für Beschränkungen nach Abs. 3 und 4 anordnet, berührt die Kompetenz der Stadt für “verschärfende Maßnahmen” nicht. Im Klartext: Niemand hindert die Stadt daran, jetzt schon Maßnahmen nach § 8 Abs. 4 ergreifen, die sie ab Feststellung eines RKI-Inzidenzwertes von 200 anordnen muss!

3. Der mögliche Beitrag des Stadtrates

Auch der Stadtrat sollte seinen Beitrag bei der Stärkung des Vertrauens in die demokratischen Institutionen leisten. Mit sichtbar gemeinsamen Handeln könnte er als Hauptorgan der Kommune mit dem OB die gemeinsame Fähigkeit zur Lösung der Probleme unter Beweis stellen. Ein zeitweiliger Corona-Ausschuss, wie ihn vier Stadträte am 4. Dezember beantragt haben, könnte Bürgeranliegen aufnehmen und bearbeiten sowie sachverständige Beratung geordnet und transparent einholen. Schon wenn der Ausschuss bestimmte Themen aufgreift, dient er der gesellschaftlichen Selbstverständigung. Der Stadtrat trüge so zur Legitimierung von Entscheidungen durch Verfahren bei.

Ein Corona-Ausschuss könnte öffentlich klären, wieso das Gesundheitsamt mit den Meldungen nicht mehr nachkommt und wie die Inzidenzberechnungen täuschen. Er könnte den Stand der Neuinfektionen und Schutzmaßnahmen in den Schulen und Kitas beobachten. Und er könnte über weitere Hilfen zum wirtschaftlichen Überleben von Gewerbetreibenden, Solo-Selbständigen oder Künstler*innen debattieren. Zu all diesen Fragen könnte er dem OB Vorschläge machen.

Schließlich würde im Sinne eines politischen Leistungsnachweises sichtbar werden, welche politischen Kräfte auf die solidarischen Kräfte in der Gesellschaft setzen und Ideen zur Bewältigung der Krise entwickeln und welche auf Kosten der Schwachen ihre ganz anderen politischen Ziele verfolgen.

Entgegen allem Unverständnis und Spott sind demokratische Verfahren die effektivsten, um Sachverstand und Solidarität zu mobilisieren sowie Zustimmung aus Einsicht zu bewirken. Die Krisen sind also auch Chancen für die Demokratie. Ergreifen wir sie!

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