Schulpräsenzpflicht in der Corona-Pandemie – Individueller Befreiungsanspruch und staatliche Schutzpflicht

1. Sachsen: Corona-Schwerpunkt in Deutschland

Seit dem 18. Januar hat Sachsen die Schulen für 50.800 Schülerinnen und Schüler in den letzten beiden Abschlussklassen der jeweiligen Schulart geöffnet. Ab 15. Februar sollen alle Klassen folgen. Nicht nur die Lehrergewerkschaft GEW oder die Initiative Schulstreik hielten und halten die Öffnung für verfrüht.

Denn die zweite Corona-Welle hat Sachsen hart getroffen! Bis Weihnachten stieg die gleitende Wocheninzidenz auf 512 je 100.000 Einwohner*innen. Die Landkreise Bautzen und Görlitz meldeten sogar Werte über 700, während Leipzig die Neuinfektionen auf einem Drittel dieses Wertes halten konnte. Sachsen war damit Zentrum der Pandemie in Deutschland! Die Versäumnisse sind – im wahrsten Sinne des Wortes – tödlich: Schon 2020 starben mindestens 70% mehr Menschen als 2019. Und obwohl sich die gleitende Wocheninzidenz im Moment den 100 nähert, steigt die Zahl der Toten ungebrochen an und liegt Ende Januar bei über 6200. Die Krematorien in Dresden und Meißen sind weiterhin überlastet.

Die Politik behandelt die Frage der Schulöffnung als Entscheidung jenseits rechtlicher Bindungen. Dies ist falsch. Denn den Staat trifft eine verfassungsrechtliche Schutzpflicht zum Schutz der Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer. Sie gilt nicht nur beim individuellen Anspruch auf Befreiung von der Präsenz-Schulpflicht, sondern kann auch verpflichten, die Schulen geschlossen zu halten.

2. Präsenzpflicht als Kernstück staatlicher Schulaufsicht

Aus der Schulaufsicht des Staates nach Art. 7 Abs. 1 des Grundgesetzes folgt als “Kernstück” eine Pflicht der Kinder zur Teilnahme am Präsenzunterricht. Ausnahmen kennen §§ 26 und 29 des Schulgesetzes nur bei längerfristigen Erkrankungen. Obwohl die Pandemie seit einem Jahr andauert, hat es der Landtag bisher nicht für nötig gehalten, gesetzliche Grundlagen für individuelle Befreiungsansprüche oder eine allgemeine Schulschließung zu schaffen. Weder die Corona-Verordnungen noch die “Allgemeinverfügung zur Regelung des Betriebs von Schulen” des Sozialministeriums vom 13. August 2020 enthalten entsprechende Vorschriften.

Das Kultusministerium hält seine “Schulbesuchsordnung” vom 12. Februar 1994, eine Rechtsverordnung, für die Rechtsgrundlage einer individuellen Befreiung in der Pandemie.1 Sie sieht “nur in besonderen Ausnahmefällen und in der Regel zeitlich begrenzt auf Antrag des Erziehungsberechtigten” eine Befreiung “in einzelnen Fächern oder von einzelnen Schulveranstaltungen” vor. “Über die Befreiung entscheidet der Schulleiter” (§ 3). Eine Pflicht zur Vorlage eines Attestes ist nicht ausdrücklich vorgesehen. Da die Schulbesuchsordnung nur Befreiungen für “einzelne” Fächer oder Schulveranstaltungen kennt, passt sie eigentlich nicht für den Pandemiefall. Jedenfalls kann ein individueller Befreiungsanspruch auch unmittelbar auf die staatliche Schutzpflicht zum Schutz der Gesundheit gestützt werden.

3. Voraussetzungen eines individuellen Befreiungsanspruchs

Entscheidungen sächsischer Verwaltungsgerichte sind bisher nicht bekannt geworden. Aber nach Gerichtsbeschlüssen aus Nordrhein-Westfalen, Bayern oder Niedersachsen sind Anträge erfolgreich, wenn Schüler an einer Grunderkrankung leiden, die nach einer individuellen Risikobewertung ein besonderes Risiko für eine Corona-Infektion oder einen schweren Verlauf (Risikogruppe) verursacht, das nicht durch besondere Schutzmaßnahmen in der Schule vermieden werden können. Das besondere Risiko ist durch ärztliches Attest nachzuweisen.

a) Unklare Gefahrenschwelle

Leider sind die Entscheidungen unklar und widersprüchlich. Das VG Osnabrück erklärt, dass ein “besonders begründeter Ausnahmefall” oder “Härtefall” vorliegen müsse, der Schüler habe keinen Anspruch “vor jeglichem (Rest-)Risiko verschont zu bleiben”.2 Das VG Würzburg meint auch, “nicht jedes gesteigerte Risiko” bedeute “einen ausreichend gewichtigen Grund”. Denn ein “gesteigertes Risiko” “würde verhindern, dass Schulen überhaupt wieder in einen geregelten Betrieb übergehen können, wenn sie stattdessen eine Vielzahl von Einzelbefreiungen erteilen müssten.”3 Das VG Gelsenkirchen verlangt ein “besonders hohes gesundheitliches Risiko”, während das VG Düsseldorf sogar fordert, der Präsenzunterricht müsse “schlichtweg unzumutbar” sein.4 Man gewinnt den Eindruck, den Gerichten ginge es vor allem darum, keine Befreiungen zuzulassen.

b) Anforderungen an ein Attest

Das besondere Risiko ist mit einem geeigneten ärztlichen Attest glaubhaft zu machen. Aus den vorgelegten ärztlichen Attesten müsse sich “regelmäßig nachvollziehbar ergeben, welche konkret zu benennenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen aufgrund des Schulbesuchs alsbald zu erwarten sind und woraus diese im Einzelnen resultieren. Dabei sind Vorerkrankungen konkret zu bezeichnen. Ferner muss im Regelfall erkennbar werden, auf welcher Grundlage der attestierende Arzt zu seiner Einschätzung gelangt ist. Denn die ärztlichen Bescheinigungen dienen dazu, die Schulleitung bzw. das Gericht aufgrund konkreter und nachvollziehbarer Angaben in die Lage zu versetzen, das Vorliegen der jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen selbstständig zu prüfen.”5

Die Rechtsprechung hatte es offenbar auch mit Fake-Attesten von Ärztinnen zu tun, die dem verschwörungsgläubigen Verein der “Mediziner und Wissenschaftler für Gesundheit, Freiheit und Demokratie e.V.” angehören. Wenn die Praxis eines ausstellenden Arztes 400 km vom Wohnort des Schülers entfernt liegt, hat er die Vorerkrankung kaum untersucht.6 Eine ärztliche Bescheinigung müsse zwar “keine konkrete Diagnose der Patientin enthalten”, allerdings schon, “ob sich die behandelnde Ärztin überhaupt ein Bild vom Gesundheitszustand der Kindesmutter gemacht hat”.7 Die Gerichte verlangen Angaben, “in welcher Ausprägung und mit welchen Begleitumständen bzw. Auswirkungen die betreffenden Erkrankungen vorliegen”, zudem “auf der Grundlage welcher Erhebungen der Arzt zu seinen Diagnosen gelangt ist”.8 Die “medizinische Einzelfallbewertung des konkret-individuellen Risikos” betreffe “gerade das erhöhte Risiko eines möglicherweise schweren Verlaufs einer COVID-19-Erkrankung.”9 Nach Ansicht des VG Regensburg müsse das Attest, anders als das VG Osnabrück meint. sehr wohl “nachvollziehbare Befundtatsachen sowie eine Diagnose” enthalten. Das vorgelegte Attest müsse auch aktuell sein, also die “jetzigen Rahmenbedingungen” für den Schulbesuch sowie die “Corona-Gefährdungslage am Wohn- und Schulort des Antragstellers” in Rechnung stellen.10

c) Vorerkrankung einer Haushaltsperson

Dieselben Grundsätze gelten für Angehörige mit besonderem Risiko, die mit Schülerinnen und Schülern “in einem räumlich nicht trennbaren Lebensbereich dauerhaft” zusammen wohnen und sich “enge Kontakte trotz Einhaltung aller Hygieneregeln nicht vermeiden lassen, wobei davon ausgegangen wird, dass dies bei Alleinerziehenden, Erziehungsberechtigten und Geschwisterkindern vorrangig, bei Großeltern etc. nachrangig der Fall ist”. Die Gefahr sei unter Berücksichtigung “vorrangiger Vorsorgemaßnahmen im privaten bzw. häuslichen Bereich” bis hin zu einer “Separierung” zu beurteilen.11

4. Präsenzpflicht in der Schule zwischen Bildungsauftrag und Gesundheitsschutz

Der individuelle Anspruch auf Befreiung von der Schulpräsenzpflicht verengt die Pandemiegefahren zum Problem kranker Randgruppen. Dabei wäre doch grundsätzlich zu fragen, ab wann die staatliche Pflicht zum Schutz der Gesundheit der Schulgemeinschaft und der Angehörigen eine allgemeine Schließung der Schulen ohne Nachweis eines besonderen individuellen Risikos gebietet.

Das ursprüngliche Erziehungsrecht der Eltern nach Art. 6 Abs. 2 GG wird nach allgemeiner Ansicht durch den staatlichen Bildungsauftrag mit seiner Schulpräsenzpflicht nach Art. 7 Abs. 1 GG konkretisiert und überspielt.12 Dabei greift die Schulpräsenzpflicht nicht nur in das Erziehungsrecht der Eltern, sondern auch in die allgemeine Handlungsfreiheit des Kindes nach Art. 2 Abs. 1 GG ein. Offenbar glauben viele Bildungspolitiker*innen, der “Bildungsanspruch” des Kindes rechtfertige einen Präsenz-Zwang auch in der Pandemie. Dem ist entschieden zu widersprechen. Diese Haltung widerspricht dem üblichen Verständnis eines Grundrechts, das gerade als durchsetzbares Freiheitsrecht gegenüber staatlichen Zwängen definiert ist.

Jedenfalls schützt das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG als “überragend wichtiges Rechtsgut” und “nicht nur als subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe. Es enthält auch die staatliche Pflicht, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit zu stellen und sie vor rechtswidrigen Eingriffen zu bewahren.”13 Der Staat hat also Gesundheitsschutz, Bildungsauftrag und Präsenzpflicht “im Wege praktischer Konkordanz”, wie es so schön heißt, “zu einem möglichst schonenden Ausgleich zu bringen.”14 Er darf jedenfalls seine Bürgerinnen und Bürger nicht zum Schulbesuch zwingen, wenn er so ihre Gesundheit in Gefahr bringt. Eine Aufrechterhaltung der Präsenzpflicht unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen kann nicht mit psychosozialen Nachteilen der Kinder oder Mängeln des Fernunterrichts zu Hause begründet werden.

5. Keine Reduzierung des Gesundheitsschutzes in Corona-Zeiten

Allerdings neigen die Verwaltungsgerichte dazu, den Gesundheitsschutz in der Pandemie zu relativieren: So gehöre ein “gewisses Infektionsrisiko derzeit für die Gesamtbevölkerung zum allgemeinen Lebensrisiko”.15 Allerdings passt ihre Berufung auf einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts nicht, bei dem es um die Aussetzung einer strafrechtlichen Hauptverhandlung ging.16 Denn der staatliche Strafanspruch wiegt offensichtlich schwerer als die Schulpräsenzpflicht.

Zudem zitieren Gerichte eine Erwägung der Karlsruher Richterinnen und Richter, dass nur eine “unter bestimmten Bedingungen zugelassene soziale Interaktion auch anderen grundrechtlich geschützten Freiheiten Rechnung” trage.17 Diese Aussage ist aber auf die Grundrechte der Versammmlungs- und Religionsfreiheit gemünzt. Sie kann keinen staatlichen Schulbesuchszwang gegen den Anspruch auf Schutz der Gesundheit rechtfertigen, auch wenn er als “Bildungsanspruch” des Kindes aufgezäumt wird. Im übrigen ist eine “vollständige soziale Isolation” keineswegs die Alternative zur Schulpräsenzpflicht, sondern gute digitale Bedingungen für den Heimunterricht.

Schließlich können auch Interessen der “Wirtschaft” keinen geringeren Schutzstandard für die Schüler*innen rechtfertigen. Denn eine Schulschließung berührt die Grundrechte der Arbeitgeber auf Berufsfreiheit oder wirtschaftliche Betätigung nicht.

6. Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Staates

a) Pflicht zu folgerichtigem staatlichen Handeln

Bundestag und Sächsischer Landtag müssen zur Erfüllung ihrer Schutzpflicht ein Schutzkonzept entwickeln. Sie haben einen “weiten Einschätzungs-, Bewertungs- und Gestaltungsspielraum”, was auch Raum lasse “etwa konkurrierende öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen”18 Der Spielraum eröffnet aber keine rechtlich ungebundene Entscheidungsfreiheit, der Staat ist jedenfalls zu rationalem und folgerichtigem Verhalten verpflichtet.Seine Einschätzung der Gefahrenlage und seine Auswahl der Schutzmaßnahmen darf er nicht willkürlich ohne sachlichen Grund zu Lasten des Gesundheitsschutzes ändern. Zumindest hat er sein Schutzkonzept zu begründen.Leider verzichtet sowohl die Corona-Verordnung vom 8. Januarmit der Sachsen die Öffnung der Abschlussklassen anordnete, als auch die Pressemitteilung des Kultusministersvom 11. Januar auf eine Begründung.

b) Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht

Das Bundesverfassungsgericht hat den Einschätzungsspielraum mit einer “Überprüfungs- und Nachbesserungspflicht” gekoppelt und begrenzt. Hat der Gesetzgeber eine “Entscheidung getroffen, deren Grundlage durch neue, im Zeitpunkt des Gesetzeserlasses noch nicht abzusehende Entwicklungen entscheidend in Frage gestellt wird, kann er von Verfassungs wegen gehalten sein, zu überprüfen, ob die ursprüngliche Entscheidung auch unter den veränderten Umständen aufrechtzuerhalten ist.”19 Die Anforderungen an die Schutzpflicht verschieben sich also im Takt des Erkenntnisfortschritts.20 Der Gesetzgeber ist daher verpflichtet, die wissenschaftliche Erforschung der Ausbreitungsbedingungen des Corona-Virus in Gemeinschaftseinrichtungen laufend sorgfältig zu beobachten, selbst voranzutreiben und seine Einschätzung der Gefahrenlage und Auswahl der Schutzmaßnahmen an neue Erkenntnisse anzupassen.

c) Grenze der objektiven Untauglichkeit

Gleichwohl zieht das Verfassungsgericht den Spielraum des Gesetzgebers sehr weit. Eine Verletzung der staatlichen Schutzpflicht liege erst dann vor, “wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben.”21 Der Staat verletzt seinen Einschätzungsspielraum “bei mehreren vertretbaren Auffassungen” nicht, “solange er dabei nicht feststehende, hiermit nicht vereinbare Tatsachen ignoriert.”22

7. Gerichte zur Schulpräsenzpflicht in der Pandemie

Die Anordnung einer Schulschließung aus Gründen des Gesundheitsschutzes ist jedenfalls zulässig.23 Der Teilhabeanspruch des Kindes auf Schulbesuch gilt nur im Rahmen der vorhandenen Schulinfrastruktur. Aber gibt es in Sachsen ein vom Gesetzgeber beschlossenes taugliches Konzept für die Schulen, dass der Schutzpflicht für Gesundheit genügt?

a) Parlamentsvorbehalt

Offenbar hält die Rechtsprechung die §§ 28, 28a, 33 des Infektionsschutzgesetzes für ausreichend. Die Norm ermächtigt zu Schutzmaßnahmen, regelt allerdings nicht, wann der Staat aus Gründen des Gesundheitsschutzes verpflichtet sei, die Präsenzpflicht aufzuheben. Auch eine schulrechtliche Landesregelung sei nicht erforderlich.24 Auch hier ist zu beobachten, was seit Beginn der Pandemie gilt: Die Justiz als dritte Gewalt verschafft dem Parlamentsvorbehalt nicht die gebotene Geltung.25 Dabei ist eine Schulpräsenzpflicht in der Pandemie durchaus “wesentlich” im Sinne des staatsfundamentalen Demokratieprinzips. Sie trifft alle Familien, ist wesentlich für die Entwicklung der Kinder und eine wichtige die Öffentlichkeit berührende Frage. Der Sächsische Landtag darf sie daher nicht dem Kultus- oder Sozialministerium überlassen, sondern muss sie selbst im Schulgesetz regeln. Man traut sich aber in der Krise weder bei Gericht noch im Parlament, seine verfassungsrechtlichen Pflicht wahrzunehmen und der Exekutive Zügel anzulegen.

b) Unwirksamkeit der Schutzmaßnahmen

Die Verwaltungsgerichte haben im letzten Quartal 2020 beschlossen, dass die Aufrechterhaltung der Präsenzpflicht keine Verletzung des Gesundheitsgrundrechts sei. Sie hielten Corona-Schutzmaßnahmen in der Schule wie das “Kohortenprinzip” (gleichbleibende Zusammensetzung der Schulgruppen), das Abstandsgebot, die Mund-Nase-Bedeckung in bestimmten Bereichen, Stoßlüftungen im zwanzigminütigen Intervall oder die Anmeldepflicht für Besucherinnen und Besuchern für ausreichend.26 Das OVG Nordrhein-Westfalen hat jetzt festgestellt, dass sich “die Infektionstätigkeit nicht in der erhofften Weise eindämmen ließ.”27 Auch das OVG Niedersachsen kommt zu der Erkenntnis: “Jedwede andere Schutzmaßnahme, sei es Maskenpflicht, Abstandspflicht, Luftreinigungsanlagen, Lüften oder Kleingruppenbildung, ist fehleranfällig und schließt eine Übertragung nicht vollständig aus.”28

8. Anspruch auf Aussetzung der Schulpräsenzpflicht?

Ein Anspruch auf Schulschließung besteht also, wenn eine so gut wie flächendeckende Ansteckung aller Schülerinnen und Schüler aufgrund der Pandemielage nach wissenschaftlichen Erkenntnissen eine feststehende Tatsache ist, mildere Mittel wie Hygienemaßnahmen objektiv ungeeignet sind oder erheblich hinter dem Ziel des Schutzes der Gesundheit der Schulgeneinschaft zurückbleiben.

a) Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis

Leider weicht das Robert-Koch-Institut als oberste Fachbehörde des Bundes der Frage aus, unter welchen Umständen eine Schule zu schließen wäre. Stattdessen erklärt es in seinen immer noch gültigen (!) Empfehlungen zu “Präventionsmaßnahmen in Schulen” vom 12. Oktober 2020, dass Kinder und Jugendliche “keine Treiber der Pandemie” seien. Es hat so einen Freibrief für die Weiterführung der Schulen im Herbst ausgestellt. Erst der Warnruf der unzuständigen Leopoldina gab den Anstoß zur Schließung ab dem 14. Dezember. Dabei zeigen auch die (unvollständigen) Zählungen des RKI in seinen Tagesbriefen, dass Infektionen gerade in Schulen auftreten und Erzieher*innen und Lehrer*innen besonders oft erkranken. Entsprechend unsicher entscheiden die Gerichte. Jedenfalls sei “nicht fraglich”, “dass auch Schulen am Infektionsgeschehen teilnehmen”. Die wissenschaftlichen Studien seien aber “uneinheitlich und weichen in der Bewertung ab.”29 Das OVG Niedersachsen formuliert dagegen am 18. Januar härter: “Der Schulbesuch dürfte als Infektionsumfeld kaum anders als andere Zusammenkünfte einer Vielzahl von Personen in geschlossenen Räumen zu bewerten sein”.30

b) Fehleinschätzungen im Herbst

Angesichts der massiven zweiten Welle mit vielen Toten erweist sich die Einschätzung, die Schulen im Herbst 2020 offen halten zu können, heute klar als falsch. So waren in Dresden am 8. Dezember 2020 in einem Viertel der Grundschulen (23 von 73), der Hälfte der Oberschulen (15 von 29) und in drei Viertel der Gymnasien (15 von 21) Schülerinnen und Schüler wegen Corona in Quarantäne.31 Auch die allgemeine Inzidenzentwicklung nach Schließung der Schulen ist aufschlussreich: Sie sinkt wieder seit dem 23.12., also knapp zwei Wochen nach dem letzten Schultag am 11.12. Sollten in der ersten Februarwoche die Zahlen wieder steigen, wäre das ein weiterer Hinweis auf die Gefährlichkeit der Schulpräsenzpflicht. Leider übergehen die zuständigen Kultusminister ihren Irrtum mit Schweigen. Und wenn Schulminister Piwarz die Schutzmaßnahmen trotzdem als erfolgreich bezeichnet, täuscht er die Öffentlichkeit.

c) Vergleich der Pandemielagen

Sachsen muss die Erfahrungen des Herbstes beachten und ist zur Nachbesserung verpflichtet­.Dies erfordert zunächst die Berücksichtigung der Pandemielage: War sie bei Wiederanordnung der Schulpräsenzpflicht am 8. Januar eigentlich maßgeblich weniger gefährlich war, als am Tag der Schließung? Die sächsische Wocheninzidenz lag am 8. Januar bei 305 und damit immerhin um ein Drittel niedriger als mit 502am 14. Dezember. Zudem schlossen die Schulen im Anstieg, während sie bei sinkenden Ansteckungen öffneten. Die Öffnungsentscheidung steht damit wohl nicht im Widerspruch zu den Bewertungen im Dezember. Andererseits traf die Staatsregierung die Öffnungsentscheidung zu einem Zeitpunkt, zu dem die Wocheninzidenz noch viermal über der allgemein für notwendig erachteten Zielmarke von 50.

d) Entwicklung der Pandemie

Die freiwilligen Testungen in Sachsen am 19. und 20. Januar haben bei den Schülerinnen und Schüler eine Inzidenz auf dem damaligen gesamtsächsischen Niveau von etwa 200 ergeben. Aber bei den Lehrerinnen und Lehrern lag sie doppelt so hoch: nach vier Wochen Schulschließung ein starker Hinweis auf eine signifikant erhöhte Ansteckungsgefahr! Wiederum verharmlost Minister Piwarz, wenn er von “nur 0,2 bzw. 0,4%” der Getesteten spricht. Dabei muss jetzt auch mit den Virusmutationen gerechnet werden, deren exponentielle Verbreitung um etwa ein Drittel höher sein soll. Daher wird eine weitere Senkung der Inzidenz auf 25 und ein R-Wert von 0,7 für notwendig gehalten. Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz haben deshalb die Wiedereröffnung ihrer Schulen verschoben.

Fazit

Die Einschätzungen zur Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen in der Schule im Herbst haben sich als falsch erwiesen. Im Rückblick ist festzustellen, dass der Staat damals seine Schutzpflicht für die Gesundheit der Schulgemeinschaft nicht erfüllt hat. Sein Schutzkonzept, so man überhaupt von einem solchen sprechen kann, ist unzureichend, weil es sich erst gar nicht die Frage vorlegt, unter welchen Umständen die Schulen ganz zu schließen wären. Parlamente und Kultusministerien müssten aus diesen Erfahrungen Konsequenzen ziehen. Leider ist nicht erkennbar, dass die von einem falsch verstandenen und auf die Präsenzpflicht verengten “Bildungsanspruch” geblendeten Verantwortlichen das Gewicht des Gesundheitsschutzes sowie das Scheitern im Herbst ernst nehmen.

Eine allgemeine Schulöffnung dürfte in der derzeitigen Phase der Pandemie jedenfalls ohne weitergehende und wirksamere Schutzmaßnahmen als bisher gegen die staatliche Schutzpflicht verstoßen. Dies gilt vor allem aufgrund der höherem Ansteckungsgefahr durch mutierte Viren. Kultusminister Piwarz will jetzt offenbar die allgemeine Öffnung ab dem 15. Februar mit Regeltests verbinden. Ob dies ausreicht, erscheint fraglich. Jeder Schüler oder jede Lehrerin wären dann berechtigt, die Rechtswidrigkeit seiner Schulpräsenzpflicht oder ihrer Präsenz-Lehrverpflichtung gerichtlich feststellen zu lassen.

1Die Bürgerbeauftragte des SMK hat mir die Schulbesuchsordnung Mitte Januar in einer mail als maßgeblich benannt.

2VG Osnabrück, B.v. 14.10.2020, 3 B 63/20, R.37. – Die Urteile sind in der Suchmaschine Juris zu recherchieren.

3VG Würzburg, B.v. 3.12.20,W 8 E 20.183, R.32.

4VG Gelsenkirchen, B.v. 23.10.2020, 4 L 1325/20, R.41. VG Düsseldorf, B.v. 1.12.20, 18 L 2278/20,R.30.

5OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 24.9.20, 13 B 1368/20, Rn. 11 ff. VG Düsseldorf R.26. VG Aachen, B.v. 2.12.20, 9 L 887/20, R.10. VG Neustadt / Weinstraße, B.v. 15.10.20, 5 L 827/20.NW, R.25.

6VG Aachen R.13. VG Regensburg, B.v. 17.09.2020, RO 14 E 20.2226, R.41.

7VG Osnabrück R.27

8VG Düsseldorf R.30.

9VG Würzburg R.32.

10VG Regensburg, 17.09.2020, RO 14 E 20.2226, R.39, 41

11VG Osnabrück R.24. VG Düsseldorf R.23. VG Aachen R.37.

12VG Aachen R.37. Zum Erziehungsauftrag und Bildungsanspruch des Kindes VGH Baden-Württemberg, B.v. 17.12.20, 9 S 4070/20, R.3f.

13Vgl. aus neuerer Zeit etwa die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Flughafen Berlin-Schönefeld vom 2.7.18, 1 BvR 612/12, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2018, 1555-1560, R.39. Dem folgen die zitierten Verwaltungsgerichte.

14VG Braunschweig, B.v. 8.10.2020, 6 B 187/20, R.35.

15VG Düsseldorf R.19. VG Aachen R.16.

16BVerfG, B.v. 19.5.20, 2 BvR 483/20, Neue Juristische Wochenschrift 2020, 2327f., R.9.

17VG Osnabrück R.33. VG Aachen R.20, R.22. BVerfG, B.v. 12.5.20, 1 BvR 1027/20, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2020, 1823f., R.7.

18BVerfG, B.v. 2.7.18, R.41. BVerfG, B.v. 12.5.20, R.6f.VG DüsseldorfR.15.VG OsnabrückR.29.

19BVerfG, B.v. 2.7.18, R.41f.

20OVG Niedersachsen, B.v. 18.1.21, 13 MN 8/2, R.25, 44. OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 14.01.2021, 19 B 1959/20, R.5.

21BVerfG, B.v. 12.5.20, R.8. BVerfG, B.v. 2.7.18, R.41. VGH Baden-Württemberg, B.v. 18.09.2020, 1 S 2831/20, R.11.

22OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 22.12.2020, 13 B 1670/20.NE, R.48. OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 22.1.21, 13 B 47/21.NE R.72.

23OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 22.1.21, R.87.

24OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 22.1.21, 13 B 47/21.NE R.27. OVG Niedersachsen, B.v. 18.1.21, 13 MN 8/2, R.18.

25Näher Lichdi, SächsVBl 2020, 273ff.

26VG Osnabrück R.30ff.

27OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 22.1.21, R.91.

28OVG Niedersachsen, B.v. 18.1.21, R.33.

29OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 22.1.21, R.64ff., 68.

30OVG Niedersachsen R.30.

31Für die Mitteilung der Zahlen danke ich @einzigartiger, der die offiziellen Zahlen der Landeshauptstadt gesammelt hat. Die Landeshauptstadt selbst hält sie in ihrem internetauftritt nicht mehr verfügbar.

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