Voraussetzungen einer allgemeinen Impfpflicht für Erwachsene

Nachdem Bundesregierung und Parteien eine Impfpflicht lange kategorisch ausgeschlossen hatten, schwenkten sie angesichts des Scheiterns der staatlichen Impfaufklärung im November 2021 um. Die neu gewählte Ampel-Mehrheit aus SPD, Grünen und FDP im Bundestag führte am 10 Dezember erst einmal eine 2G-Pflicht für Mitarbeiterinnen in Krankenhäusern und im Pflegebereich ein. Jene müssen zum 15. März 2022 entweder eine zweimalige Impfung oder einen Genesenen-Status nachweisen; andernfalls “kann” das Gesundheitsamt ein Betretungsverbot verhängen.

Die Debatte der letzten Tage zeigt aber, dass der Staat nicht gewillt ist, diese gesetzliche Pflicht auch durchzusetzen. Wie seit Beginn der Corona-Pandemie geht der Staat den Weg des geringsten Widerstands. Er knickt lieber vor lauten ego-narzistischen Minderheiten ein, als für einen wirksamen Schutz gefährdeter Menschen zu sorgen.

Der Bundestag hat am 26. Januar eine sogenannte “Orientierungsdebatte zur allgemeinen Impfpflicht durchgeführt. Erst im März will er sich mit Gesetzentwürfen befassen. Wieder einmal entlarvt sich der Scheincharakter heutiger politischer Debatten: Sie dienen nicht der Vorbereitung staatlichen Handelns, sondern der Demonstration von Handlungsbereitschaft in einer konkreten Drucksituation – allerdings ohne die angekündigten Konsequenzen ziehen zu wollen.

Dennoch: Eine allgemeine Impfpflicht wirft fundamentale Fragen der Stellenwerte und des Verhältnisses persönlicher Freiheit und des Solidargedankens jeder Gemeinschafts- und Staatsbildung auf.2 Verfassungsjuristisch geht es um den Umgang mit Gefahren und Risiken, Schutzbereiche der Grundrechte und die Verhältnismäßigkeit von Eingriffen.

I. Eingriff in Grundrechte

(1) Körperliche Unversehrtheit

Eine Impfpflicht greift in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ein, denn “jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit” (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz). Der Einstich in Haut und Muskel mit der Impfnadel ist ebenso ein Eingriff wie die Einbringung von Impfstoffen in den Körper, die dort Reaktionen auslösen. Diese Eingriffe erfüllen den objektiven Tatbestand einer Körperverletzung im Sinne des § 223 des Strafgesetzbuchs. Es ist gleichgültig, dass die Impfung gegen eine Ansteckung immunisieren soll. Die objektive Körperverletzung ist aber gerechtfertigt, wenn der Impfling einwilligt.

(2) Menschenwürde und körperliche Selbstbestimmung

Das Grundgesetz schützt die körperliche Unversehrtheit als elementare und unmittelbare Voraussetzung persönlicher Handlungsfähigkeit und Freiheit. Eine Impfpflicht greift also in die “grundsätzliche Verfassungsentscheidung” ein, “die Disposition über die eigene körperliche Integrität dem Grundrechtsträger anzuvertrauen”.3 Daher ist auch die Schädigung des eigenen Körpers bis zur Selbsttötung zulässig und straflos. Jede fremde Verfügung über den eigenen Körper ist eine fundamentale Geste der Unterwerfung unter diesen Willen. Sie rührt unmittelbar an die Menschenwürde des Betroffenen. Man denke an die Extremfälle einer Versklavung oder Brandmarkung von Menschen oder die demonstrative Zerstörung des Körpers bei öffentlichen Hinrichtungen, wie sie Michel Foucault in seiner berühmten Studie “Überwachen und Strafen” beschrieb.

(3) Staatliche Indienstnahmen des Körpers

Im 19. und 20. Jahrhundert waren Impfpflichten keineswegs nur Maßnahmen des Gesundheitsschutzes, sondern auch Instrument staatlicher Legitimation, Sozialkontrolle und Ausgrenzung wie die Arbeiten von Malte Thiessen zeigen. Die Impfpflicht erfordert eine Registrierung und medizinische Beurteilung der Familien und ihrer Lebensumstände. Die DDR rühmte sich gegenüber der BRD der Ausrottung von Kinderlähmung und Pocken.

Die staatliche Verfügung über den Körper zeigt sich nicht zufällig gerade in der Abrichtung und Einfügung des Individuums in eine kollektive Tötungsmaschine. Auch heute noch hat ein Soldat nach geltendem Recht Impfungen im Rahmen seiner “Gesunderhaltungspflicht” zu “dulden, wenn sie der Verhütung oder Bekämpfung übertragbarer Krankheiten dienen” (§ 17a Abs. 2 Nr. 1 Soldatengesetz). Wenn der Staat den Soldaten zumutet, im Kriegsfall ihr Leben zu opfern, erscheint eine Impfpflicht als geradezu als Kleinigkeit.

II. Schwere der Eingriffe

(4) Impfkomplikationen und “Impftote”

Übliche Impfreaktionen beschränken sich auf Schwellungen und Schmerzen an der Injektionsstelle, verbunden mit Unwohlsein, Fieber und Kopfschmerzen, die innerhalb von fünf Tagen abklingen. Dem Paul-Ehrlich-Institut wurden bis Ende November 2021 bei 113 Mio. Impfungen gut 26.000 Verdachtsfälle für schwere Impfkomplikationen gemeldet. Herzmuskel- und Herzbeutelentzündungen (Myokarditis und Perikarditis) vorwiegend bei Jungen und jüngeren Männern nach mRNA-Impfung sind sehr selten (0,01% der Fälle). Sie verliefen in den meisten Fällen mild bis moderat, bei einem kleinen Teil aber auch schwer.5 In immerhin knapp 2000 Fällen starb der Impfling in den nächsten 289 Tagen.

Und nicht zu unterschlagen: “In 78 Einzelfällen, in denen Patienten an bekannten Impfrisiken wie Thrombose-mit-Thrombozytopenie-Syndrom (TTS), Blutungen aufgrund einer Immunthrombozytopenie oder Myokarditis im zeitlich plausiblen Abstand zur jeweiligen Impfung verstorben sind, hat das Paul-Ehrlich-Institut den ursächlichen Zusammenhang mit der Impfung als möglich oder wahrscheinlich bewertet.”

(5) Wiederholende Impfpflicht und Durchsetzung

Wird eine wiederholende Impfpflicht eingeführt, vervielfacht sich der Eingriff entsprechend. Da der Impfschutz auch nach zweimaliger, sogenannter “vollständiger”, Impfung nach drei Monaten deutlich nachlässt, empfiehlt die Ständige Impfkommission StiKO seit November 2021 eine dritte Impfung (“Booster). Für das Frühjahr wird schon eine vierte Impfung gegen die Omikron-Variante angekündigt.

Von wesentlicher Bedeutung ist, ob und wie die Impfpflicht vollzogen werden soll. Die mittelbare Masernimpfpflicht und 2G-Pflicht für Pflege- und Krankenhauskräfte wird durch Betreuungs- und Betretungsverbote durchgesetzt. Verstöße werden zudem mit einem Bußgeld bis zu 2.500 € bedroht (§ 73 Abs. 1 Nr. 7a bis 7h, Abs.2 Infektionsschutzgesetz). Eine allgemeine Impfpflicht könnte aber auch mit den Mitteln der Verwaltungsvollstreckung durchgesetzt werden: Ein- oder mehrmalige Zwangsgelder sowie unmittelbarer Zwang. Allerdings wird ein solcher Impfzwang wohl allgemein ausgeschlossen, so etwa der Ethikrat.7

III. Grundgesetzlich zulässige Zwecke einer Impfpflicht

(6) Gemeinschaftsschutz

Da die Schädigung des eigenen Körpers erlaubt ist, ist eine staatliche Impfpflicht zum Schutz der Gesundheit des Impflings unzulässig. Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes zwingt niemanden zu seinem Glück! Zulässiger Zweck einer Impfpflicht ist aber der Schutz anderer Personen, die aufgrund ihres Alters, Geschlechts oder Vorerkrankung besonders verletzlich sind oder nicht geimpft werden können. Diesen “bevölkerungsbezogenen Gemeinschaftsschutz” anerkennt der Eilbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 2020 zur Masernimpfpflicht als zulässigen Zweck. Auch der Erhalt der Funktionsfähigkeit der Gesundheitsversorgung im Interesse aller Kranken ist zulässiger Gemeinwohlzweck.

(7) Wiederherstellung der Grundrechte

Seit März 2020 ist das öffentliche und private Leben monatelang mit zahlreichen Beschränkungen reglementiert und abgeschnürt worden. Sie reichen von Ausgangsbeschränkungen und Demonstrationsverboten bis zu Schließungen von Läden, Schulen und Hochschulen, Gastronomie, Kneipen, Museen und Kulturveranstaltungen, ja bis zur faktischen Existenzvernichtung für kleine Gewerbetreibende oder Kulturschaffende! In letzter Zeit werden Zugänge an Impf-, Genesenen- oder Getestet-Status (3G, 2G, 2G+) gebunden. Noch niemals in der Geschichte der Bundesrepublik sind Grundrechte derart allgemein und einschneidend eingeschränkt worden! Der Staat ist zur Wahrung der Grundrechte verpflichtet, also auch zu ihrer möglichst schnellen Wiederherstellung. Diese Aufgabe kann eine Impfpflicht im Grundsatz rechtfertigen.

IV. Staatlicher Einschätzungsspielraum und Gefahr

(8) Umgang mit Wissenslücken und Parlamentsvorbehalt

Die jeweiligen Eigenschaften des Virus bestimmen Eigenart und Ausmaß der Gefahren. In einer Pandemie mit wechselnden Viruseigenschaften kann die Gefahr nie schnell genug vollständig und eindeutig ermittelt werden. Eine Gefahrenbeurteilung enthält notwendig zahlreiche prognostische Elemente. Der Staat verfügt daher über einen Einschätzungsspielraum, den Gerichte nur auf begründete Plausibilität überprüfen dürfen. Genauer: das frei, gleich und geheim gewählte Parlament ist bei unsicherer Gefahrenlage das allein legitimierte Verfassungsorgan, Entscheidungen über Grundrechtseinschränkungen zu treffen. Bundestag und Landtage haben diesen aus dem Demokratieprinzip fließenden Parlamentsvorbehalt in unerträglicher Weise verletzt.

Da ein Einschätzungsspielraum aber tendenziell den staatlichen Handlungsrahmen unzulässig erweitert, darf er nur solange bestehen, wie objektiv nicht mehr über die Pandemie gewusst werden kann. Der Staat hat daher eine ständige Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht. Er muss seine Wissenslücken durch Förderung der Forschung möglichst schließen, seine Lagebeurteilung ständig anpassen und Maßnahmen nachbessern.

(9) Rolle des RKI

Der Staat bedient sich zur Beurteilung der Pandemiegefahren des Robert-Koch-Instituts (RKI) als “nationale Behörde zur Vorbeugung übertragbarer Krankheiten” (§ 4 Abs.1 Infektionsschutzgesetz). Dessen Ständige Impfkommission StIKO (§ 20 Abs. 2 und 2a Infektionsschutzgesetz)entscheidet über Impfempfehlungen. Das RKI ist eine nach wissenschaftlichen Kriterien arbeitende Fachbehörde des Bundes. Zwar sind seine Einschätzungen widerlegbar, ihnen ist nicht zu folgen, wenn sie dem Konsens der Fachwissenschaften widersprechen. Nicht evidenzbasierte Glaubenssätze über die Qualität des eigenen Körpers oder irgendeine preprint-Studie reichen dafür aber nicht aus.

(10) Manifestationsindex und Long Covid

Nach dem aktuellen “Epidemiologischen Steckbrief” des RKI vom 26. November 2021 wird das Virus durch Einatmung von Aerosolen übertragen, insbesondere in Innenräumen auch über eine längere Distanz als 1,5m. “Ein relevanter Anteil von Personen” steckt sich “innerhalb von 1-2 Tagen bei bereits infektiösen, aber noch nicht symptomatischen Personen an.” Der Manifestationsindex, also der Anteil der Infizierten, die tatsächlich erkranken, wird auf 55 – 85% geschätzt. Männer erkranken häufiger schwer und sterben doppelt so häufig wie Frauen. Etwa 10% aller bekannten Infizierten kommen ins Krankenhaus. 1,8% aller Personen mit bestätigten Infektionen (Fall-Verstorbenen-Anteil) oder über 115.000 Menschen sind Mitte Januar im Zusammenhang mit einer COVID-19-Erkrankung verstorben. Der Median liegt bei 83 Jahren. Von “stationär behandelten erkrankten Erwachsenen” leiden “bis zu 76 % noch 6 Monate nach Entlassung” an Symptomen. Es besteht “z.T. Arbeitsunfähigkeit über Wochen bis Monate”.

(11) Beurteilung für die Herbstwelle 2022 und Impfquote

Eine sofortige Impfpflicht käme für die laufende Omikron-Welle zu spät, wie der Vorsitzende der StIKO, Mertens, zu Recht anmerkt. Da sich der Bundestag offenbar erst ab März mit einer gesetzlichen Impfpflicht beschäftigen will, kann diese frühestens für die Herbstwelle wirken. Setzt man deren Beginn ab September 2022 an, müsste eine Impfpflicht ab Juni 2022 vollzogen werden.

Leider erklärt das RKI nicht, wieviele Menschen wie oft geimpft sein müssten, um Krankenhauseinweisungen und schwere Verläufe zu vermeiden. Die Zielwerte für eine dreifache Impfung dürften aber mindestens so hoch sein, wie die, die das RKI im Juli 2021 zur “Kontrolle” der Herbstwelle 2021 angenommen hatte: 80% der 18 bis 59-Jährigen und 90% der über 60-Jährigen.

Am 31. Januar waren 74% insgesamt sowie 88% der über 60-Jährigen zweimal geimpft. 53% waren geboostert. Allerdings sind weiterhin 16 Mio. oder knapp 16% der Bevölkerung, für die ein Impfstoff zur Verfügung steht, ungeimpft. Es fällt schon auf, dass sich in den letzten Monaten nur wenige erstmals impfen ließen.

V. Ansteckungsfähigkeit

(12) Höhere Wahrscheinlichkeit

Eine Impfpflicht zum Zwecke des Gemeinschaftsschutzes ist nur für Personen zu rechtfertigen, die andere Menschen anstecken können. Geimpft werden aber Gesunde, die nicht erkennbar infiziert sind. Da in der Pandemie allerdings jederzeit das Risiko einer Infektion besteht, kommt es darauf an, unter welchen Umständen sich das Ansteckungsrisiko so verdichtet, dass eine Impfverpflichtung Gesunder gerechtfertigt ist.

Bisher hatten Regierungen und Gerichte keine Bedenken, mit den Corona-Verordnungen auch Gesunde einzuschränken. Dies entspricht der herkömmlich weiten Auslegung der Generalklausel des § 28 Infektionsschutzgesetz. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts setzt ein Ansteckungsverdacht “objektive Anhaltspunkte für eine Gefahr” voraus, die sich “allein aus dem (möglichen) Kontakt mit infizierten Personen” ergeben könne, zum Beispiel “aufgrund der Eigenheiten der jeweiligen Krankheit (z. B. hohe Infektionsfähigkeit, schwere Krankheitsverläufe)”. “Erforderlich und ausreichend” sei, “dass die Annahme, der Betroffene habe Krankheitserreger aufgenommen, wahrscheinlicher ist als das Gegenteil.”11

Leider ist aber die Ansteckungsfähigkeit Ungeimpfter, Geimpfter und Genesener medizinisch nicht vollständig geklärt.

(13) Infizierte und Genesene

Nach Ansicht des RKI gelte als sicher, “dass die Ansteckungsfähigkeit kurz vor und nach Symptombeginn am größten” sei und “ein erheblicher Teil von Übertragungen bereits vor dem Auftreten erster klinischer Symptome” erfolge. Bei “normalem Immunstatus” nehme “die Kontagiosität im Laufe der Erkrankung ab”, aber “schwer erkrankte Personen” schieden länger infektiöse Viren aus. “Nach derzeitigem Kenntnisstand” ginge “bei leichter bis moderater Erkrankung die Kontagiosität innerhalb von 10 Tagen nach Symptombeginn deutlich zurück.“ “Bei schweren Krankheitsverläufen und Vorliegen einer Immunschwäche können Patientinnen und Patienten auch noch erheblich länger als 10 Tage nach Symptombeginn ansteckend sein.” Auch wenn infizierte Kinder und Jugendliche in der Regel nicht schwer erkranken, verbreiten sie ebenfalls das Virus.

Bei Genesenen seien “erneute Infektionen” zwar “selten”. “Reinfizierte wiesen aber hohe Virusmengen im Nase-Rachenbereich auf und könnten SARS-CoV-2 somit potenziell übertragen.” Seit Mitte Januar 2022 verlangt das RKI den Nachweis einer Ansteckung durch PCR-Test, der mindestens 28 Tage und höchstens 90 Tage zurückliegt.

(14) Geimpfte

Auch Geimpfte weisen keine sterile Immunität auf! Sie können sich also wieder anstecken und Viren ausscheiden. “Erste Erkenntnisse zur Impfstoffwirksamkeit gegenüber der Omikron-Variante” zeigten, “dass ab etwa 15 Wochen nach der Grundimmunisierung die Wirksamkeit gegenüber symptomatischen Erkrankungen durch die Omikron-Variante so stark reduziert ist, dass nicht mehr von einem ausreichenden Schutz vor Erkrankung ausgegangen werden kann.” Dennoch sei “die Virusausscheidung kürzer als bei ungeimpften Personen”. “In der Summe” sei “das Risiko, dass Menschen trotz Impfung PCR-positiv werden und das Virus übertragen, unter der Deltavariante deutlich vermindert. Wie hoch das Transmissionsrisiko unter Omikron ist, kann derzeit noch nicht bestimmt werden.”

VI. Geeignetheit und Erforderlichkeit einer allgemeinen Impfpflicht

(15) Unklarer Umfang des Impfvorteils

Eine Impfpflicht muss nach dem rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geeignet und erforderlich sein, um die notwendige Impfquote zu erreichen, die medizinisch begründet für einem bevölkerungsbezogenen Gesundheitsschutz für notwendig gehalten wird. Schon eine zweimalige Impfung oder eine Genesung fördert dieses Ziel und kann daher geeignet sein, weil sie die Ansteckungsfähigkeit herabsetzt. Auch wenn eine Impfung nicht zu 100% wirkt und nachlässt, sinke “die Anzahl suszeptibler Kontaktpersonen”. Geimpfte stecken sich deutlich seltener als Ungeimpfte an oder erkranken schwer und verteilen seltener, weniger und kürzer Viren.

Die Hospitalisierungsquote zeigt den Impfvorteil drastisch: Während nur einer von 26.000 erkrankten Geimpften ins Krankenhaus muss, ist es bei den Ungeimpften einer von 3600!15 Allerdings bleiben die Aussagen des RKI zur jeweiligen Ansteckungsgefahr durch Geimpfte und Ungeimpfte zu vage. Auch unter Berücksichtigung des staatlichen Einschätzungsspielraums sollte die Reduzierung der Ansteckungsfähigkeit bei Geimpften genauer quantifiziert werden.

(16) Aufklärung

Die Impfpflicht ist nur erforderlich oder notwendig, wenn kein milderes Mittel gewählt werden kann, um im Frühsommer 2022 die Zielimpfquoten zu erreichen. Zielimpfquoten erscheinen aber durch Aufklärungs- und Werbemaßnahmen erreichbar! Freiwilligkeit war auch historisch das erfolgreichere Konzept.

Die Quote der zweimal Geimpften beträgt Mitte Januar insgesamt 73%, der über 60-Jährigen 88% und der 18 bis 59-Jährigen 83%. Völlig ungeimpft sind derzeit 12% der über 60-Jährigen, 22% der 18 bis 59-Jährigen und 48% der Jugendlichen von 12 bis 17 Jahren. 4% sind jünger als 5 Jahre. Damit ist die im Juli 2021 für erforderlich erklärte Impfquote fast erreicht.

Die Impfquoten unterscheiden sich aber stark nach geographischen, sozialen, siedlungsstrukturellen und politisch-kulturellen Kriterien. So besteht ein starkes Nord-West zu Süd-Ost-Gefälle. Spitzenreiter ist Bremen mit 88% zweimal Geimpften – mit nur 64% ist Sachsen Schlusslicht. Unterdurchschnittlich geimpft sind 30 bis 39-Jährige, Arbeitslose oder Kurzarbeitende, Menschen, die in Städtchen bis zu 20.000 Einwohnern leben oder mit Migrationshintergrund.

Diese Defizite beleuchten die Ansatzpunkte gezielter Impfkampagnen. Immerhin liegt die Impfbereitschaft nach der Covimo-Studie bei 91%: nur 3,7% wollen sich “auf keinen Fall” impfen lassen, 2,3% “eher nicht”. Da der Anteil harter Impfgegner also unter 10% liegen dürfte, können die erforderlichen Quote durchaus bis Jahresmitte 2022 erreicht werden. Eine Impfpflicht ist daher derzeit nicht erforderlich. Wollte sie der Gesetzgeber einführen, müsste er sie gesetzlich an die Nichterreichung bestimmter Impfquoten binden.

(17) Medikamente

Wenn Medikamente Infektionen, die Virus-Ausscheidung und schwere Verläufe auch nach einer erkannten Infektion verhindern, wäre eine Impfpflicht nicht erforderlich. Das RKI führt zu den im November 2021 zugelassenen Medikamenten Casirivimab und Imdevimab aus, dass sie “in der Frühphase der Infektion die Zeit zur Viruselimination” verkürzen, “seltener eine Hospitalisierung erforderlich”werde “und die Sterblichkeitsrate geringer” sei.Auch für Patientinnen “mit einem schweren Krankheitsverlauf, der eine Hospitalisierung notwendig macht,” stünden “ausgewählte Arzneimittel zur Verfügung, welche allerdings nur nach einer sehr differenzierten Betrachtung des Einzelfalls angewendet werden sollten”. Leider trifft die Behörde keine Aussagen zum Wirkverhältnis der Einnahme dieser Medikamente einerseits und andererseits einer Impfung. Daher sprechen derzeit wohl Medikamente nicht gegen die Notwendigkeit einer Impfpflicht.

(18) Alte sächsische Querschwurbler

Wenn beschränkte Impfpflichten ausreichen, um einen Bevölkerungsschutz zu erreichen, ist eine allgemeine Impfpflicht im Rechtssinne nicht “erforderlich”. In Betracht kommen alters- oder geschlechtsspezifische oder sogar regionale Impfpflichten. Zugespitzt: Genügt in Sachsen nicht schon eine Impfpflicht für Männer ab 50 in sächsischen kreisangehörigen Städten, die Anhänger der Querschwurbler sind? Dies passte jedenfalls zu deren üblichem Wahlverhalten. Denn nach einer Studie des IDZ Jena besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen Impfenthaltung und AfD-Wahl!

VII. 2G-Pflicht für Pflegekräfte

(19) Ansteckungswahrscheinlichkeit und staatliche Schutzpflicht

Die Impfquoten in Pflegeeinrichtungen sind in Sachsen erschütternd niedrig, nämlich auf dem jämmerlichen Durchschnittsniveau von etwa 65%. Damit sind mindestens 35% des Personals ungeimpft! Und es gibt auch Kreise, in denen die Impfquote nur bei etwa 50% liegt. Weiter dürfte es zwischen den Einrichtungen erhebliche Unterschiede geben.

Die Impfverweigerung des Pflegepersonals trifft zudem auf eine unterdurchschnittliche Impfquote bei den Ü60. Daher genießt das Virus in Pflegeheimen angesichts des engen körperlichen Kontakts und dauerhaften Zusammenlebens vieler Menschen paradiesische Bedingungen. Die hohen Risiken für die Weitergabe des Virus verdichten sich hier zu einer konkreten Gefahr. Die Todeswelle im Winter 2020 / 21 mit etwa 10.000 Toten in Sachsen ist dafür Beweis genug – auch wenn die Öffentlichkeit diese Todeswelle erfolgreich verdrängt.

Ja, es drängt sich die Frage auf, ob der Bundestag nicht in Erfüllung seiner Schutzpflicht verpflichtet gewesen wäre, die 2G-Pflicht im Pflegebereich wesentlich früher einzuführen – etwa ab Juni 2021, als genügend Impfstoff zur Verfügung stand. Die demokratischen Rechtsstaaten Frankreich, Italien und USA haben dies im Herbst 2021 vollzogen.

(20) Allgemeine Impfpflicht und 2G-Pflicht

Reicht die einrichtungsbezogene Impfpflicht für einen Gemeinschaftsschutz aus, wäre eine allgemeine Impfpflicht nicht erforderlich. Allerdings hat der Freistaat Sachsen schon angekündigt, seine aus Art. 1 Abs. 3 Grundgesetz folgende verfassungsrechtliche Pflicht, Gesetz und Recht zu befolgen, nicht einhalten will. Diese präventive offene Gesetzesuntreue wird mit einem “Vorrang der Versorgungssicherheit” begründet. Nach sächsischem Verständnis gehört also die Vermeidung von Corona-Ansteckungen nicht zur “Versorgungssicherheit”. Diese Verweigerungshaltung ist gerade nicht durch die gesetzliche Einräumung von Verwaltungsermessen gedeckt, das entlang des Gesetzeszweckes auszuüben ist, besonders Verletzliche zu schützen.

VIII. Angemessenheit oder Zumutbarkeit

Eine allgemeine Impfpflicht ist nur angemessen oder zumutbar, wenn die Schwere dieses Eingriffs in das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper nicht außer Verhältnis zum Gewicht des Gemeinschaftsschutzes und der Wiederherstellung der Geltung der Grundrechte steht. Die Hürden sind dabei um so höher, je weniger eine Impfung die Ansteckungsgefahr herabsetzt und je unwahrscheinlicher eine Reinfektion Genesener ist.

Die Zumutbarkeit hängt wesentlich von der Ausgestaltung einer Impfpflicht ab. Wird jene an die Bedingung der Nichterreichung einer Impfquote gebunden? Wird sie als einmalige Erst- oder wiederholende Impfpflicht angeordnet? Wird ein Bußgeld auf einmalig 2500 € beschränkt? Kann ein Zwangsgeld mehrfach erhoben werden? Und vor allem: Könnte ein Impfverweigerer mit unmittelbarem Zwang geimpft werden?

(21) Todesfälle nach Impfung

Gegen eine Impfpflicht sprechen Gesundheitsgefahren aufgrund Impfkomplikationen. In rechtlicher Hinsicht ist zu fragen, ob der Staat angesichts des Rechtsguts Leben als “Höchstwert” diese Fälle im Rahmen seines Einschätzungsspielraums übergehen darf. Denn eigentlich darf nach der Rechtsprechung des BVerfG kein Leben gegen ein anderes abgewogen und geopfert werden. Diese Fallkonstellation könnte allenfalls bei einem Impfzwang vorliegen. Aber auch dann wöge der Staat nicht ein Leben gegen ein anderes ab, weil er trotz der Kenntnis äußerst seltener tödlicher Impfkomplikationen nicht bewusst Menschenleben opfert.

Daher kommt es darauf an, ob der Staat mit der Impfpflicht das äußerst seltene Risiko eines Versterbens schaffen darf. Allerdings hat der Gesetzgeber trotz „Restrisikos“ hochgefährliche Anlagen wie etwa Atomkraftwerke zugelassen. Abschiebungen in gefährliche Gebiete hält die Rechtsprechung schon bei einem Risiko von 1 : 800, schwer verletzt oder getötet zu werden, für zulässig. Jedenfalls ist der Staat verpflichtet, Impfkomplikationen sorgfältig zu beobachten und bei Gefahren Konsequenzen zu ziehen. Dieser Pflicht kommt er mit den Sicherheitsberichten des PEI und den Empfehlungen der StIKO nach.

(22) Menschenwürdegehalt und Weltanschauungsklausel

Die grundgesetzliche Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts über den eigenen Körper gebietet, die Sicht von Impfgegnern ernst zu nehmen. Danach bewirkedie Impfung eine erhebliche Gefahr für die eigene körperlich-geistige Unversehrtheit und unterwerfe die eigene Persönlichkeit einem totalitären Staat. Impfgegner fühlen sich durchaus zum bloßen Objekt staatlichen Handelns herabgesetzt. Eine Impfpflicht rührt für sie an den Kern ihrer Menschenwürde.

Der Gesetzgeber hat diese Einschätzung ernst zu nehmen, muss ihr aber nicht folgen. Es ist nicht zu verkennen, dass für viele die Impfgegnerschaft quasi-religiöse Züge angenommen hat. Daher bietet sich an, diesen Überzeugungen nachzugeben, wenn sie die Qualität einer identitätsprägenden Weltanschauung angenommen haben. Denn dann ist der Schutzbereich der vorbehaltlos garantierten Weltanschauungsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG berührt. Zugleich erscheint der Anteil quasi-religiöser Impfgegner nicht so hoch zu sein, dass sie die erforderlichen Impfquoten verhindern. Der Gesetzgeber sollte entsprechende Ausnahmen ins Impfgesetz aufnehmen.

(23) Gemeinschaftsschutz

Der bevölkerungsbezogene Gemeinschaftsschutz wiegt angesichts der Pandemie mit bisher fast 120.000 Coronatoten, nicht absehbaren gesundheitlichen Langzeitfolgen, der Einschränkung von Grundrechten sowie erheblicher öffentlicher und privater wirtschaftlicher Folgen sehr schwer. Zwar werden in der laufenden Omikron-Welle offenbar anteilig weniger Tote beobachtet. Dennoch wäre die Einschätzung des Gesetzgebers über Covid als gefährliche Infektionskrankheit nicht zu beanstanden. Sollten also keine milderen Mittel zur Verfügung stehen, wiegt die Gefahr vieler weiterer Toter, schwer Erkrankter und unabsehbarer Grundrechtseinschränkungen schwerer als das Risiko sehr seltener Impfkomplikationen oder das körperliche Selbstbestimmungsrecht, das durch eine Weltanschauungsklausel geschützt wird.

Dies gilt erst recht für die mittelbare Impfpflicht für das Pflege- und Krankenhauspersonal, die in regelmäßigen engen körperlichen Kontakt zu besonders verwundbaren Personen stehen und beruflich die Aufgabe zur Wiederherstellung der Gesundheit oder Pflege Schutzbefohlener übernommen haben. Man fragt sich schon, ob diese Impfverweigerer, die eigentlich überdurchschnittliche medizinische Erfahrung haben, die richtige Einstellung zu ihrem Beruf haben. Letztlich stellen sie ihre medizinisch nicht haltbaren Ängste über Leben und Gesundheit der ihnen anvertrauten Menschen.

Fazit

Eine gesetzliche allgemeine Impfpflicht mit dem Ziel, die erforderliche Impfquote für einen ausreichenden Gemeinschaftsschutz zu erreichen, die Funktionsfähigkeit der Gesundheitsversorgung zu gewährleisten oder zur Wiederherstellung der Grundrechte ist zulässig, wenn aufgrund der pandemischen Lage und der Viruseigenschaften eine Ansteckung mit Weitergabe des Virus wahrscheinlicher ist, als verschont zu bleiben und schwere Erkrankungen und Todesfälle auftreten können.Aufgrund mangelnder Quantifizierungen bestehen aber Zweifel, ob nach einer zweimaligen Impfung oder Genesung weitere Impfungen angeordnet werden dürfen. Die Durchsetzung einer Impfpflicht mit unmittelbarem Zwang ist unzumutbar. Der Gesetzgeber darf die Wirkung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht nach § 28a und die laufende Boosterkampagne abwarten. Schließlich ist eine allgemeine Impfpflicht derzeit nicht erforderlich, weil die nötigen Impfquoten bis zum Frühsommer 2022 erreichbar erscheinen. Diesem Umstand kann mit einer bedingten Impfpflicht Rechnung getragen werden. Eine Weltanschauungsklausel für in ihrer Identität gegen Impfung geprägte Personen ist zur Wahrung der Angemessenheit geboten.

Also: Impfpflicht im Grundsatz zulässig, aber derzeit nicht!

2Habermas, Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2021, S. 67 ff.

3Trapp, Deutsches Verwaltungsblatt 2015, S. 11 ff.

5RKI, Aufklärungsmerkblatt, Stand 21.12.2021.

7Deutscher Ethikrat, Ad-Hoc-Empfehlung, 22. 12. 2021.

11BVerwGE 142, 205 ff., R. 25, 33.

15Grafik des Bundesgesundheitsministeriums vom 17.1.2022.

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